Die Empathie, eine mitfühlende Achtsamkeit dem Leben gegenüber wird in den letzten Jahre in vielen Büchern und Ratgebern immer wieder genannt als eine unverzichtbare Eigenschaft, die Eltern, Erzieherinnen und Lehrer ihren Kindern vermitteln müssten, um sie zu selbstgewissen und selbstbewussten, aufrechten Menschen zu erziehen.
Der bekannte Pädagoge Jesper Juul hat in seinem neuen Buch „Aggression“ gerade beschrieben,
wie es gelingen kann, Aggressionen zu integrieren, benennt die Empathie als das „Gegengift zur Gewalt“ und plädiert für eine Kultur, die auf die Resilienz des Menschen baut.
Der Psychoanalytiker Arno Gruen geht in seiner hier vorliegenden Studie „Dem Leben entfremdet“ viel tiefer. Er denkt radikaler und grundsätzlicher, wenn er nachweist, wie unser Bewusstsein und unsere Wirklichkeit nicht etwa von Empathie o.ä. beherrscht sind, sondern von Krisen, Hass, Exzessen und Gewalt. Das geht bis zur grundsätzlichen Verachtung alles Menschlichen.
Die Wissenschaft, die Technik und vor allem die Informatik formen ein abstraktes Bewusstsein von der Welt und entfremden die Menschen vom Leben. Ihr eigentlich natürliches Mitgefühl für andere Menschen und ihre Wahrnehmung der Welt werden zunehmend abgewertet und sogar ersetzt durch ein „unnatürliches und nicht mehr menschliches Bewusstsein.“
Und so kommt es, so Gruen, dass die Menschen ihr selbstzerstörisches Handeln und Leben nicht mehr als solches wahrnehmen und erst recht nicht mehr die Ursachen dafür benennen können. Ihnen ist das empathische Bewusstsein verloren gegangen, das dafür nötig wäre.
In einer kritischen Fundamentalkritik an unserer gesamten Zivilisation lässt er zunächst wenig Positives erblicken, bevor er am Ende mit den Worten des Dalai Lama so etwas wie eine Perspektive weist:
„Paradoxerweise können wir uns selbst nur helfen, wenn wir den Anderen helfen. Die Voraussetzung für das Überleben unserer Spezies sind Liebe und Mitgefühl, unsere Fähigkeit, anderen beizustehen und ihren Schmerz zu teilen … Leid zu verstehen .. bedeutet wirkliche Empathie zu verstehen… Das Gefühl der Verbundenheit mit allen Lebewesen kann nur erreicht werden, wenn wir erkennen, dass wir alle vereint und voneinander abhängig sind.“
Jeder, so sagt Gruen, kann dazu beitragen und in seinem Leben beginnen: „Wenn wir den Prozess der Selbstentfremdung unterbrechen, uns selbst mit all unseren Schwächen und unserem Selbst annehmen und die Schwächen anderer respektieren, dann können wir uns selbst und andere wieder lieben lernen.“
Ein leidenschaftliches Plädoyer, den Weg des Lebens neu zu entdecken.
Arno Gruen, Dem Leben entfremdet, DTV 2015, ISBN 978-3-423-34836-2
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2015-02-18)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.