Oskar Maria Graf, der auf eigenen Wunsch verbrannte Dichter, der mit Beginn der faschistischen Diktatur das Exil wählte, aus dem er nie mehr zurückkehrte, hat der Nachwelt unter anderem hochwertige Literatur über die Zeit der zwanziger Jahre hinterlassen. Der große mündliche Erzähler, der selbst in seiner oberbayrischen Heimat das Bäckerhandwerk erlernt hatte und im Alter von 17 Jahren nach München flüchtete, wo er sich als Schriftsteller versuchte, in anarchistischen Kreisen landete, Weltkrieg und Räterepublik miterlebte und durchlitt, hat mit der Erzählung Wunderbare Menschen etwas hinterlassen, das als Dokument für die Emanzipationsidee von Kunst und Kultur nicht hoch genug eingeschätzt werden kann.
Graf schildert in der Erzählung die Versuche der Münchner Arbeiterbühne in den Jahren 1920/21, nach der blutigen Niederschlagung der Räterepublik einen Ort schaffen zu wollen, an dem sich Arbeiter, Handwerker, Tagelöhner und brotlose Künstler zusammentaten, um sich kulturell zu bilden und den Gedanken der sozialen Befreiung zu erhalten. In seiner nahezu rabelaischen Manier schreibt Graf über die vielen profanen Dinge, die ein Theater am Leben halten. Da geht es um Räume und Technik, Darsteller und Komparsen, und immer wieder um die Mittellosigkeit der Betreiber und den Willen der Betreiber, den Laden mit Ideenreichtum weiter laufen lassen zu können. Gerade diese Geschichten, die Graf mit seiner ihm charakteristischen Liebe zu den einfachen Leuten erzählt, lassen sich lesen als pointiertes Gegenstück zu den durch Subventionismus etablierten Kulturbetrieben, deren Ideen sich aus festgelegten Etats ableiten und nicht aus dem Willen, gesellschaftlich etwas zu bewegen.
Besonders die Figur eines Kofferträgers vom Münchner Hauptbahnhof, der zu der zentralen Identifikationsgestalt und Seele dieser Arbeiterbühne avanciert war, macht den schwierigen und beschwerlichen Weg des Kulturerwerbs transparent. Für Graf, der mit seiner Souveränität immer jenseits aller kleinmütigen Anzweiflungen steht, ist es gerade das Schwerfällige am Lernen, das die Sympathie hervorruft. Wunderbare Menschen ist eines der wenigen literarischen Dokumente über proletarische Bildungsbemühungen aus dem letzten Jahrhundert, das ohne Ideologie und Dogmatik auskommt und von einer Menschlichkeit getragen wird, die nur aus der sinnlichen Erfahrung entspringen kann, dabei gewesen zu sein.
Ohne es zu wollen, aber ganz seinem Naturell des Épater le bourgeois entsprechend, ist die Schrift auch ein gehöriger Affront gegen das bis heute immer wieder virulente Milieu kultureller Hochstapelei, in dem sich die Protagonisten zu einer Attitüde der Arroganz aufschwingen, nicht wissend, zu gesellschaftlicher Wirkungslosigkeit verurteilt zu sein, und bei deren Anblick man sich sehnt nach dem Packträger aus dem Münchner Hauptbahnhof, der mühsam einen Text von Schiller liest!
[*] Diese Rezension schrieb: Gerhard Mersmann (2011-01-19)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.