Nachdem Svenja Gräfens literarisches Debüt „Das Rauschen in unseren Köpfen“ nicht nur den Rezensenten begeistert hat, sondern mit seiner kunstvollen Sprache und eigentümlichen Schönheit auch andere Kritiker überzeugte, geht es auch in ihrem nun vorliegenden zweiten Roman, der bei Ullstein fünf erschienen ist, um die Geschichte eine Paares. Waren es im ersten Buch Lene und Hendrik, in deren zunächst so leichte und lockere Liebesbeziehung sich immer mehr Probleme aus der Vergangenheit des jungen Mannes mischten und die Beziehung gefährdeten, sind es in der Beziehung der beiden jungen Frauen Vela und Maren eher gegenwärtige Geschehnisse, die die Beziehung der beiden unter eine große Belastungsprobe stellen.
Über die Schilderung der privaten Situation der beiden Frauen nähert sich Svenja Gräfen zwischen den Zeilen aber immer wieder sehr schnell dem Poltischen und der Frage, die die Generation der nach 1990 geborenen Menschen umtreibt: wie wollen wir leben?
Mit fast zärtlichem Mitgefühl beschreibt die Autorin ihre beiden Protagonistinnen, die seit einiger Zeit eine glückliche Beziehung führen. Sie haben einen gemeinsame Kinderwunsch und suchen seit langem schon vergeblich nach einer größeren Wohnung, ohne die sie diesen Wunsch nicht verwirklichen können. Ihre jeweiligen Jobs sind wie die vieler in dieser Generation eher prekär und stellen selbst kleine Mieterhöhungen sie vor ernste Probleme.
Und so scheinen all ihre Träume und Pläne von einem gemeinsamen Leben mit einem Kind immer mehr an den Gegebenheiten und Anforderungen der Großstadt zu scheitern.
In dieser Situation, in die Gräfen ihre Leser am Beginn des Romans einführt, macht Maren ihrer Partnerin einen unerwarteten Vorschlag, dessen Realisierung vor allem Vela im Verlauf des Romans vor schwere Probleme stellen wird. Marens Schwester Jo lebt am Rande der Stadt zusammen mit anderen Menschen in einem ambitionierten Lebensprojekt in einem großen alten Haus mit Garten, das ein Mitbewohner namens Theo geerbt hat und das er der Gemeinschaft zur Verfügung stellt. Dort ist ein großes Zimmer frei geworden (über die Umstände dieses Leerstandes erfahren wir später im Buch sehr Wichtiges) und Maren überzeugt Vela davon, dass sie beide das Angebot der Gemeinschaft annehmen und dort einziehen. Für beide bedeutet es nicht nur, mit neuen Menschen zusammenzuleben und sich in deren besondere Gemeinschaft einzufügen, sondern sie haben zu ihren bisherigen Arbeitsplätzen auch viel weitere Wege. Doch durch die idyllische ruhige Lage scheint das mehr als wettgemacht zu werden.
Eine ganz besondere Rolle in diesem Wohn- und Lebensprojekt spiellt, das wird mit jedem Kapitel mehr deutlich, der Eigentümer des Hauses, Theo, der als Gartenarchitekt gutes Geld verdient und sich als so etwa wie er ideologische spiritus rector der Gemeinschaft herausstellt. Ein Menschen, dessen wahren Beweggründe eher im Dunkeln bleiben (falls sie ihm selbst denn je bewusst geworden sind) und der insbesondere Vela von Anfang an suspekt ist. Es ist auch Vela, die sich mit dem Einleben in der Gruppe schwerer tut als Maren,mit ihrem Zweifeln und Gefühlen aber alleine bleibt.
Als Theo sich als Samenspender für Maren anbietet, als diese ihren Kinderwunsch nun in der neuen Umgebung umsetzen möchte und Maren darauf positiv reagiert, da stürzt für Vela die ganze gemeinsame Zukunftshoffnung eines Lebens mit Maren scheinbar zusammen.
Nach und nach werden Velas Vorahnungen über Theos Rolle im Projekt und über dessen inneren Zustand bestätigt und sie fühlt sich immer einsamer. Lediglich mit Darek, der sie mit seinem Auto oft mit in die Stadt nimmt, hat sie so etwas wie eine warme Beziehung.
„Freiraum“ spielt auf zwei Zeitebenen. In einer Ebene beschreibt Svenja Gräfen fortlaufend in Rückblicken, wie Vela Maren kennenlernt, wie sie sich ineinander verlieben. Der Leser erfährt von vorübergehenden Jobs, die sich als prekärer Dauerzustand entpuppen, davon, wie sich Träume junger Menschen einfach nicht verwirklichen lassen angesichts mangelndem sicheren Einkommen, steigender Mieten und erfolgloser Wohnungssuche. Diese Rückblicke bis zu dem Zeitpunkt , an dem sich Vela mit widersprüchlichen Gefühlen auf das Wohnprojekt einlässt, zeigen am Beispiel zweier Frauen, in welcher beruflichen und persönlichen Situation sich gegenwärtig viele Millenials befinden.
Auf der anderen Ebene des Romans beschreibt Svenja Gräfen die Menschen und ihr Zusammenleben im Haus. Ihr Versuch anders zu leben und ihr jeweiligen ganz persönlichen Probleme, sich auf ein solches Leben einzulassen. Immer mehr wird auch die besondere und nicht immer sympathische Rolle von Theo dabei klarer und so manches bisher gehütete Geheimnis kommt ans Tageslicht und bringt Unruhe in die langsam bröckelnde Gemeinschaft.
Mit großer Sprachkunst gelingt es Svenja Gräfen, der wohl auch biografisch konnotierten Frage nachzugehen, wie das ist mit Lebensträumen, wie es passiert, dass als Provisorium gedachte Zustände ein traumvernichtenden Endgültigkeit bekommen. Wann sollte man sich mit Realitäten abfinden und sich eingestehen, dass eben manche erträumte Lebenstüren geschlossen bleiben werden.
„Freiraum“ (so ist die Bezeichnung Theos für das gemeinsame Leben im Haus) ist ein nachdenklicher Roman, der am Ende trotz aller Enttäuschungen einen gewissen Spielraum lässt für ein gutes Ende von Vela und Maren. Aber es bleibt unklar.
Svenja Gräfen zeichnet ihre Figuren mit großem und warmherzigem Einfühlungsvermögen und scharfer Beobachtungsgabe und konnte mir als 1954 Geborenem einen Eindruck vermitteln über das Lebensgefühl vieler junger großstädtischer Menschen in der Gegenwart, ihrem Lebensgefühl und ihren Träumen von einem selbstbestimmten Leben.
Ich freue mich auf den nächsten Roman dieser sprachbegabten Schriftstellerin.
Svenja Gräfen, Freiraum, Ullstein fünf 2019, ISBN 978-3-96101-037-0
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2019-07-02)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.