„Was heißt hier Swetik? Gleich, ich ruf’ sie. Swetlana! Swetlana! (...) Wie tief bin ich gefallen, mein Gott. Das ist der Osten, klar, der Osten, du willst ein Sandwich – und kaufst ein Falafel, überall Palmen, rauschende Wedel, feiner Regen fällt zischend in die Kohlebecken der Araber, und JudenUkrainerRussen (sic!), von Beduinenvillen umrahmt, der heidnischen Halskette als Zugabe zu dem Müllauto Lod, trinken und krakeelen bei den Händlern aus Buchara, das ist der Osten, und gesellschaftliche Verhältnisse haben nichts damit zu tun“, schreibt Alexander Goldstein in „Denk an Famagusta“, einem unerschöpflichen und unbeschreiblichen Roman, der in den 70er Jahren in Baku beginnt und sich bis hin zu Goldsteins eigenen Erfahrungen als Immigrant in Israel zu Beginn dieses Jahrtausends spannt. Der Osten in „Reinkultur“, nicht als Sowjet, sondern als eigene Kultur der Besonderheiten, ob nun kommunistisch oder eben nicht, ein Gemisch der Völker, Sprachen und Idiosynkrasien.
Osten in „Reinkultur“
Schon in dem ersten Essay, das die Verlegerin Irina Prochorowa von Goldstein gelesen hatte, schreibt sie im Nachwort, waren Goldsteins wichtigste Leitmotive vorweggenommen: „Hang zu ästhetischem Eskapismus, Ornamenten, kalligrafischen Ausführungen und zweckfreien Kombinationen, Drama von kultureller Einsamkeit, Ausgestossensein, Randposition eines Künstlers sowie eine ungewollte Fixierung auf Russlands imperiale Vergangenheit und die verzweifelten Versuche, sich dem zu widersetzen“. Der in der Erdölstadt Baku am Rande des Imperiums geborene Goldstein erlebt dort die europäische Moderne im Widerstreit mit der östlichen patriarchalen Lebensform und flieht bei den neuen Pogromen von 1990 noch weiter in den Osten: nach Israel, wo er eine neu Heimat findet, die so ganz anders ist als der Ort wo die meisten anderen Dissidenten ihre Diaspora ausbreiteten.
Ehrlichkeit statt Sowjetnostalgie
Im Roman „Famagusta“ werden drei Figuren an unterschiedlichen geographischen Orten - wie eine fiktive Kaukasus-Stadt der Stalinzeit, in Palästina und Griechenland - zu Vermittlern des Autorendgedankens, schreibt Prochorowa. Das Wort als Tat begreifend macht es sich Goldstein zur Aufgabe, die „Vollkommenheit des Stils, die Schönheit des Schreibens, die tiefste, organisch unanfechtbare Eigenart des literarischen Textes zu erneuern, deren Verlust dem Verschwinden des Literarischen, das heißt, der Literatur, gleichkommt“, meint die Dichterin Jelena Fanajlowa über das Werk Goldsteins. „Das Imperium als persönliches Schicksal erlebt zu haben, schafft zwischen Mensch und Staat eine Zone des emotionalen Gesprächs, ein Gefühl seelischer Bindung an das Sein des Imperiums, sehr nahe am Begriff der Liebe“, so Prochorowa und Goldstein sei anders als andere Autoren nicht der Scylla der unkritischen Sowjetnostalgie erlegen und auch nicht der Charybdis des ironischen Spiels mit Sowjetkitsch, der nur der Vermarktung diente, sondern hat mit „Famagusta“ ein aufrichtiges und ehrliches Werk verfasst.
Alexander Goldstein
Denk an Famagusta
Übersetzung: Regine Kühn
535 Seiten, Hardcover bedruckter Schutzumschlag
Matthes & Seitz 2016
ISBN: 978-3-95757-227-1
30,00 €
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2017-03-01)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.