Annabelle Görgen-Lammers - GIORGIO DE CHIRICO. Magische Wirklichkeit
Buchinformation
Nach der pittura metafisica, metaphysische Malerei benannten Chirico und sein Bruder Alberto Savinio sowie Carlo Carrà ihre scuola metafisica, metaphysische Schule. Im Schatten des Ersten Weltkrieges war eine einzigartige Malerei entstanden, die gerne auch mit dem Surrealismus des 20. Jahrhunderts assoziiert wird, jedoch mehr noch als dieser jenseits der Realität neue Räume und Zeitwahrnehmungen schafft.
Existentielles Unbehagen
Große leere Plätze, irreale Größenverhältnisse, verschobene Perspektiven oder wie Gliederpuppen agierende Menschen, Skulpturen, Erinnerungen an Orte und Architekturen, die griechische Mythologie und auch berühmte Werke der Weltliteratur prägen den magischen Kosmos der Bilder de Chiricos. Das Musées d’Orsay et de l’Orangerie (16.09.2020 - 14.12.2020) und die Hamburger Kunsthalle (22.01.2021 - 25.04.2021) würdigen nun das Werk des Italieners, der seine metaphysische Kunst zwischen Nietzsche und Rimbaud ansiedelte. Selbst André Breton, der selbsterklärte Diktator der Surrealisten, zog seinen Hut vor einem Gemälde de Chiricos al er dieses im Schaufenster einer Galerie erblickte, da er darin seine Vorstellung von surrealistischer Malerei auf den Punkt gebracht sah, wie es in der Einleitung zu vorliegendem Prachtband des Hirmer Verlages heißt. Und noch etwas: seine Sujets wie oben beschrieben könnten in Zeiten von Covid-19 kaum aktueller und treffender sein. De Chiricos Kunst führt uns an den metaphysischen Rand unserer Existenz, den wir dieser Tage wie kaum sonst erleben müssen.
Der „italienische“ Grieche
Existentielle Unsicherheit verbreitet also längst nicht mehr die metaphysische Malerei des beginnenden 20. Jahrhunderts, sondern vielmehr die Realität des 21. Jahrhunderts, 100 Jahre später. Als Deserteur hatte Giorgio de Chirico die Spanische Grippe – die Pandemie des 20. Jahrhunderts – selbst miterleben müssen, sein Freund Guillaume Apollinaire starb sogar daran, Chirico überlebte die Infizierung wie durch ein Wunder. Auch seine vermeintlich „italienischen“ Piazzen unterliegen einem großen Missverständnis, denn Chirico hatte nie in Italien gelebt und war eigentlich griechischer Herkunft. De Chirico und seine Bruder verstanden sich eher als intellektuelle Nomaden, Heimat- und Vaterlandslose resp. Kosmopoliten, bis der Stellungsbefehl auch sie einholte. Der vorliegende Ausstellungskatalog in Hardcover bietet nicht nur eine Reihe von Essays von nahmhaften Kunstexperten, sondern auch eine detaillierte Chronologie des Lebens von Chirico. Außerdem natürlich Reproduktionen seiner berühmtesten Gemälde sowie viele weiterführende Hinweise zu anderen Künstlern seiner Zeit.
GIORGIO DE CHIRICO. Magische Wirklichkeit
Hg. Annabelle Görgen-Lammers, Paolo Baldacci für die Hamburger Kunsthalle
Beiträge von P. Baldacci, C. Girardeau, Annabelle Görgen-Lammers, G. Lista, G. Roos, F. Rovati
232 Seiten, 186 Abbildungen in Farbe
19,5 x 28,5 cm, gebunden
ISBN: 978-3-7774-3474-2
34,90 € [D] | 35,90 € [A] | 42,60 SFR [CH]
Hirmer Verlag
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2020-11-05)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.