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Jean-Luc Godard - Außer Atem
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Godard, Jean-Luc:
Außer Atem

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(Bücher frei Haus)

„Eigentlich bin ich ja ein Schwein, aber was soll`s: es muss sein, es muss sein.“, sind die ersten von Michel Poiccard (Jean-Paul Belmondo) gesprochenen Worte. Und als Selbstbeschreibung eigentlich ziemlich passend, denn die erste Straftat begeht er in den ersten drei Minuten des Films: er schließt ein Auto kurz und braust der Geliebten der letzten Nacht davon. Ein muntres Liedchen auf den Lippen, „Buenas noches, mi amor“, tritt er bald ein bisschen zu viel aufs Gaspedal und rauscht – natürlich rauchend - durch die Landstraßen und Baumalleen eines französischen Vorstadtgebietes.
 
„Ahhh, ich liebe Frankreich!“ kommt wie ein Befreiungsseufzer über seine Lippen, denn auch wenn er über „Mailand, Florenz, Rom...“ singt: Er liebt seine Gitanes maises und alles was sie repräsentieren. Auch die zwei kleinen Mädchen, die am Straßenrand stehen und mitgenommen werden wollen liebt er - aus der Entfernung - doch als er näher kommt und sie sich für ihn als hässlich herausstellen, lässt er sie lieber stehen. Stattdessen spielt er mit seinem Revolver, den er aus dem Handschuhfach zaubert, und zielt per Spaß auf Bäume, Autos usw. Steckt in diesen ersten fünf Minuten des Films bereits eine sexuelle Symbolik? Spielt der Frauenheld Michel deswegen mit einer Waffe, weil er sich - ob der Hässlichkeit der Anhalterinnen - unbefriedigt fühlt und kommt es deswegen bald darauf zu dem verhängnisvollen Schuss? Seine Spielereien mit dem Revolver werden jedenfalls jäh unterbrochen, und zwar von der Staatsmacht. Zwei motorisierte „weiße Mäuse“, die Polizei, nehmen Michels Verfolgung auf, er fuhr ja die ganze Zeit über mit überhöhter Geschwindigkeit, und als er sich in einer Nebenstraße zu verstecken sucht und ein Polizist ihn bis dorthin verfolgt springt das Auto nicht mehr an. Dann kommt der zweite, weit tragischere Griff ins Handschuhfach: Ein Schuss, der Polizist fällt tot um und Michel flieht in einer geradezu absurden Einstellung über die Landschaft.
 
Was sich hier in den ersten fünf Minuten des Films abspielt wirkt fast komisch, wenn deren Inhalt nicht so tragisch wäre. Immerhin ist ein Mensch tot. Michel Poiccard ist ein zum Himmel schreiend sympathischer Chauvinist, Gauner, Frauenheld, Bandit, Nichtsnutz, aber er ist auch einer, der gerne zum Schuss kommen würde und es nicht schafft. Am Steuer maunzt er über die fehlenden Fahrkünste von Frauen, um dann einsehen zu müssen, dass eigentlich eine Baustelle die Verkehrsverzögerung verursacht hat und nicht die Autofahrerin. Aber das schert ihn nicht weiter, Frauen sind für ihn Eroberungsterritorium, er liebt sie mehr als Prinzip, denn als Person. Endlich in Paris angekommen kauft er sich als erstes den „France Soir“ (keine Ahnung wie oft der Name dieser Zeitung in diesem Film genannt wird), um ein Foto von sich darin zu suchen. In einem Bistro bestellt er sich ein „Helles“ und Rührei mit Schinken, auch wenn er sich das Geld erst besorgen muss: bei einer Freundin, die in der Nähe wohnt, klaut er das Nötige aus ihrem Geldbeutel. An der Wand ihrer Mansarde steht in Großbuchstaben „POURQUOI“, („warum?“), aber das interessiert Michel nur beiläufig, er steckt sich eine seiner Maise an und raucht und raucht. Ich glaube, es gibt keine Szene in diesem Film, in der er nicht raucht. Außer vielleicht in den Drehpausen, da musste er wohl tatsächlich im wörtlichen Sinn eine „Verschnaufpause“ machen.
 
Endlich begegnet er auf der Straße „seiner“ Patricia (Jean Seberg), die er zuvor schon in der Hotelbar gesucht hatte, Frau Franchini ist eine Amerikanerin, die in Paris die „New York Herald Tribune“ verkauft und auch ab und zu dafür schreibt und in die sich ausgerechnet derselbe Michel Poiccard verliebt hat. Ihr erster Satz im Film, „New York Herald Tribune“, ist zwar kein Satz, sondern nur der Name einer Tageszeitung, aber dennoch besonders aufgrund des lang gezogenen „ü“ von „Tribune“ berühmt geworden, wohl auch aufgrund des Akzentes von Seberg und der Begegnung der beiden auf den Champs Elysses. Eine wunderschöne Szene, umgeben von einer Baumallee, im Hintergrund der leise rauschende Verkehr, viele Straßencafes und ein sonniger Tag in Paris. Was will man mehr?
 
Aber es gibt noch viel mehr. Erst trennen sich die beiden zwar, an einem Kiosk mit der Aufschrift Martini, schöne Szene, da beide in eine andere Richtung gehen und die Einstellung von oben gedreht wurde, aber sie haben ja immerhin ein Rendezvous ausgemacht. Michel verschwindet also vorerst wieder in seine Halbwelt und Patricia ruft wieder mit ihrem unglaublichen Charme „New York Herald Tribune, New York Herald Tribune!“ Michel holt sich dann von einem Freund im Hotel Interamericana einen Verrechnungsscheck ab, doch die Polizei ist ihm bereits auf den Fersen. Auch sein Gewissen: ein Verkehrsunfall ruft ihm sein eigenes Verbrechen wieder in Erinnerung, gerade in dem Moment als er glücklich zu sein scheint, denn er hat ja ein Rendezvous mit Patricia. Patricia trifft sich mit ihrem Agenten, schmust mit ihm unter den sie verfolgenden eifersüchtigen Blicken Michels. Im Hotel Claridge, wo sie ihre Wohnung hat, wartet bereits Michel auf sie: nackt und in ihrem Bett.
 
Die Liebesgeschichte der beiden spielt sich nunmehr hauptsächlich in der Wohnung von Patricia ab, wobei sie ihn weiterhin siezt und er weiterhin raucht. Sie fragt ihn mehrmals nach einigen Vokabeln, was zu einer unfreiwilligen Komik und immer wieder zu Missverständnissen führt, auch am Ende des Films erfährt diese Technik eine Art Krönung. Der Dialogschreiber Godard (und Truffaut?) hat sich wirklich bemüht. Aber auch die Kameraführung in dieser Szene schafft eine Intimität, dass man glaubt selbst in dem Hotelzimmer mit den beiden zu sein, die sprichwörtliche Maus, die alles sieht und hört ohne gesehen oder gehört zu werden. Das berühmte „ahh-ihh-mhh“, das Belmondo erstmals vor einem Kinoposter von Bogarts „Plus dure sera la chute“ (eine Homage Godards an die Schwarze Serie Hollywoods) grimassiert, erhält nun, in dem Hotelzimmer Patricias, seine Perfektionierung und wird in der Todesstunde Michels noch für ein weiteres schönes Zitat herhalten. Er spricht immer wieder von Rom, von Italien, will mit ihr dorthin abhauen (er weiß die Polizei bereits auf seinen Fersen), doch sie spielt selbstverliebt mit einem Teddybär. „Frauen bekennen nie Farbe“, provoziert Michel sie und wenn sie ihn nicht sofort anlächle, würde er sie erwürgen. Dann beschimpft er sie als feige, weil sie ihn doch noch anlächelt. Als sie ein Zündholz nimmt und es ihr nicht gelingt, es zu entfachen, scheint für Michel klar zu sein, dass sie Angst hat. Er hingegen habe keine, sprachs und zündet sich die nächste Maise an. Ein anderes Liebesspiel: „Ich werde dich anschauen bis du mich nicht mehr anschaust!“ „Ich auch!“. Die in dieser Szene von Godard geschaffene Zärtlichkeit zwischen den beiden Figuren ist sicherlich eine der schönsten Momente in diesem Film und nicht zuletzt deswegen hat er wohl besonders bei Liebespaaren diesen Kultcharakter. Denn wer erinnert sich nicht an die Tage und Nächte, die man in den ersten Wochenenden der Verliebtheit in Hotelzimmern oder Wohnungen zugebracht hat, ohne zu essen, zu trinken oder einen Schritt vor die Tür zu setzen, sich unter dem Leintuch versteckte, um dann wieder kurz daraus aufzutauchen und Luft zu schnappen und der Körper des anderen zur einzigen Heimat der eigenen Seele, zum Hafen aller Sehnsüchte wurde? Genau dieses Gefühl vermittelt Godard in diesen intensiven Momenten des Films, in denen Michel auch erfährt, dass Patricia von ihm schwanger ist. Komplimente werden bald wieder von Beschimpfungen abgewechselt und auch die unvermeidlich peinliche Frage „Wie viele Liebhaber hattest du vor mir?“ wird gestellt, aber in einer wirklich witzigen Weise aufgelöst. Und dann kommen die Worte Michels, die in den noch folgenden Sechzigern (der Film wurde 1959 gedreht!) wohl noch häufiger zitiert wurden: „Wenn ich zwischen Leiden und Nichts („Grief or Nothing!“) wählen müsste, würde ich Nichts wählen. Leiden ist doch idiotisch, ein Kompromiss. Ich will Alles! Alles oder Nichts!“
 
Bevor Michel Poiccard von der Polizei schließlich festgenagelt wird, besuchen sie Patricia noch in ihrer Redaktion. Sie deckt ihn vorerst, doch nachdem sie mit dem Romancier Parvalesco am Flughafen Orly ein Interview geführt hat, ist sie verunsichert. Dieser sieht in der Liebe und der Erotik keinen Unterschied und den einzigen Zweck des Daseins in der Unsterblichkeit. „Nach was Sie streben in Ihre Leben am meisten?“, fragt Patricia ihn in ihrem gebrochen Französisch und Parvalecso antwortet. „Sterben und unsterblich werden.“
 
Dass genau das Michel Poiccard am Ende gelingen wird, wenn er sich von einer Polizistenkugel getroffen auf den Asphalt der Rue Campagne Premier 11 wirft, ist wohl der Genialität Jean Luc Godards und den Darstellungskünsten Belmondos zuzuschreiben. Das Drehbuch geht völlig in sich auf und lässt wirklich keinen Raum für Zweifel, dass hier ein großes Talent am Werk war. Ein anderer kleiner genialer Gag ist auch, dass Godard selbst den Passanten spielt, der Poiccard auf der Straße erkennt und es zwei Polizisten mitteilt, die sofort die Verfolgung aufnehmen. Eine geniale Szene, da sie sich ganz im Hintergrund und quasi nebenbei abspielt und doch von so aussagekräftigen Wert ist, wie das, was sich unmittelbar vor der Kamera abspielt. Die essentielle Frage, die natürlich den ganzen Film beherrscht, ist aber die nach der Liebe. Denn Patricia ist es, die Michel am Ende an den Inspektor Vital verrät und ihn dem Tod ausliefert. Aber sie will nicht, dass er stirbt, sondern nur, dass sie sich von ihm befreien kann. Denn sie will nicht lieben. Jedenfalls nicht ihn. Sie tut etwas so Hässliches und Gemeines und verrät ihn, um sich selbst zu beweisen, dass sie ihn nicht liebt. Wenn Sie das nächste mal ihre Freundin den „France Soir“ und eine Flasche Milch einkaufen schicken gehen, passen Sie lieber auf, dass sie am Ende nicht noch ein paar ungeliebte Besucher mehr mitbringt. Doch Michel, den hat es diesmal wirklich erwischt: er liebt dieses Mädchen tatsächlich und ergreift nicht die Flucht. Denn jetzt wo sie ihn nicht mehr liebt, ist ihm alles egal und er geht sogar gerne ins Gefängnis, „Je regardais les mures“.
 
Aber Michel besinnt sich seines Freundes, Antonio, der ebenfalls bald vorbeischauen will, um ihm den eingelösten Verrechnungsscheck vorbeizubringen, die Freundschaft, das Leben eines Freundes zu schützen, die „Ganovenehre“, ist für Michel wichtig genug, sich aus seiner prälethalen Lethargie („Ich hab`die Nase voll. Ich will schlafen. Ich bin todmüde.“) auf die Straße zu stürzen, um wenigstens Antonio vor den Polizisten zu schützen. Das gelingt ihm zwar, doch in dieser aufsehenerregenden Schlussszene kann ihm auch sein letztes „ahh-ihh-mhh“ (Bogart-Zitat) nicht mehr das Leben retten. Er schließt sich - in einer generösen Geste - selbst die Augen und haucht seine letzten Worte in das erstaunte Gesicht von Patricia: „Tu es vraiment dégueulasse“, „Du bist wirklich zum Kotzen.“.
 
Das Meisterwerk von Jean-Luc Godard wurde nach einer Vorlage von Francois Truffaut zum Wegbereiter der „Nouvelle Vague“. Ausgezeichnet wurde „Außer Atem“ mit dem „Silbernen Bären“ für die Beste Regie und dem „Prix Jean Vigo“. Es zählt zweifellos zu den Klassikern der Filmgeschichte und wir nächstes Jahr bereits 50 Jahre alt, ein halbes Jahrhundert und immer noch so „brennend“ wie am ersten Tag!

[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2010-03-05)

Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.


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