David Gilmour hat sich auf die Suche nach den Spuren des Nationalstaates Italien gemacht, die in der Geschichte des Landes nur schwer zu eruieren sind. Wenn man bei manchen Staaten Mitteleuropas von einer verspäteten Nationsbildung spricht, könnte man im Falle von Italien von einer verfrühten Nationsbildung sprechen, denn – das versucht zumindest Gilmour auf über 450 Seiten nachzuweisen – Italien ist auch heute noch keine wirkliche Nation. „Die Jahrtausende ihrer Vergangenheit und ihre prekäre geographische Lage haben es ihnen unmöglich gemacht, einen erfolgreichen Nationalstaat zu schaffen.“, schreibt Gilmour über die Italiener, denn eine Nation wäre mehr als nur die Summe aller Teile. Angefangen beim Risorgimento hätten die darauffolgenden führenden Politiker die vereinte Nation Italien von einem politischen Abenteuer ins nächste gestürzt. Mussolini ist nur die Fortsetzung einer Politik, die schon im 19. Jahrhundert angefangen hatte: eine Nation zu schaffen, der Nation zu nationaler Größe zu verhelfen, sei das Ansinnen aller Politiker der Jahrhundertwende gewesen. Erst nach dem Zweiten Weltkrieg habe man sich auf sich selbst besonnen und sei bescheidener geworden, mit dem Ergebnis, dass so illustre Sezessionsbestrebungen wie die Lega Nord geboren wurden.
Amoralischer Familismus
Gilmour verortet die Ursachen für die mangelnde Nationswerdung aber nicht nur in der „prekaräen geographischen Lage“ Italiens, sondern auch im weitverbreiteten campanilismo und im „amoralischen Familismus“ (Edward Banfield), denn die Familie sei, wie schon wie Luigi Barzini es ausdrückte, die „entscheidende Institution“ des Landes. Damit ist natürlich nicht „die“ Familie gemeint, die Gilmour übrigens weitgehend aus seinem Narrativ ausspart, sondern die tatsächliche Familie und Sippe, die weitgehend für die Versorgung des Einzelnen sorgt, weswegen die Loyalität auch nicht dem italienischen Staat gilt, sondern eben der Familie, denn sie ist es, die da ist, wenn man Hunger hat, krank ist oder sonst etwas braucht. Der Staat wurde in Italien oft nur als jemand wahrgenommen, der Steuern auf etwas erhebt und die jungen Männer zum Heeresdienst einzieht, gegeben habe er seinen Bürgern im Austausch dafür aber kaum etwas. Ein anschauliches Beispiel veranschaulicht die Ausmaße des eben Gesagten: Im Jahr 2008 (!) waren an der Universität in Palermo 230 Dozenten und Professoren miteinander verwandt.
Nord-Süd-Konflikt im eigenen Land
Das vielzitierte Nord-Süd-Gefälle ist in Italien aber nicht nur in der Universitätslandschaft (siehe oben) frappierend, sondern auch was die gesellschaftliche und wirtschaftliche Lage betrifft. Beim Referendum vom 2. Juni 1946 über die künftige Staatsform gingen immerhin 89,1% der Wahlberechtigten zur Wahl, aber 12.717.923 Stimmen davon, d.h. 54,3%, stimmten für die Republik und 10.719.284 Stimmen, d.h. 45,7% für die Beibehaltung der Monarchie (Italien war auch während des Faschismus eine konstitutionelle Monarchie). Im Norden hatte die Republik mit 66,2% gewonnen, im Süden dagegen kam die Monarchie auf 63,8%. Der Gegensatz zwischen „polentoni“ und „terroni“ besteht auch heute noch weitgehend, ist aber auch ein Ergebnis eines noch unabgeschlossenen „risorgimento“, denn die nationale Einigungsbewegung wird auch heute noch von den meisten Italienern als oktroyierte Besetzung durch das Haus Savoyen-Piemont und seine Dynastie empfunden. Überraschend war dabei besonders die Rolle Giuseppe Garibaldis, der als politischer Abenteurer durchaus mit einem Ernesto Guevara zu vergleichen wäre, der Monarchie in die Nähe spielte und nicht nur den Süden, sondern auch Rom eroberte.
Gilmour fasst die wesentlichen Aspekte der nationalen Entwicklung Italiens zusammen und es liest sich tatsächlich weitegehend wie gute Prosa. Immer wieder schwenkt er von den politischen Ereignissen zu der Beschreibung wichtiger politischer Persönlichkeiten (darunter übrigens keine einzige Frau!), die das Angesicht der Nation Italien schufen. Darunter neben Garibaldi natürlich auch Verdi oder Cavour, Mazzini und Mussolini, aber auch Cicero und Vergil bis zu Dante und den Medici. Eine gute Einführung in den „italienischen Weg“, der genügend Diskussionsstoff für einen hoffentlich langen Sommer am Meer liefert. 150 Jahre sind noch lange nicht genug!
David Gilmour
Auf der Suche nach Italien
Eine Geschichte der Menschen, Städte und Regionen von der Antike bis zur Gegenwart
Aus dem Englischen von Sonja Schuhmacher und Rita Seuß (Original: The Pursuit of Italy. A History of a Land, its Regions and their Peoples)
2. Aufl. 2013, 464 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag, 16 Seiten farbiger Tafelteil, Lesebändchen
ISBN: 978-3-608-94770-0
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2013-07-19)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.