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André Gide - Die Falschmünzer
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Gide, André:
Die Falschmünzer

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(Bücher frei Haus)

Auch ein Nobelpreiskomitee findet mal einen geeigneten Preisträger, 1947 zum Beispiel André Gide. Es attestierte ihm damals, er habe „Fragen und Verhältnisse der Menschheit mit unerschrockener Wahrheitsliebe und psychologischem Scharfsinn dargestellt“. Diese Begründung überzeugt noch immer. Als Autor ist Gide längst Klassiker geworden, seine Sprache wirkte schon zu Lebzeiten klassizistisch. Seine Methode indessen, die Kombination von Rationalismus und Zweifel, ist zeitlos modern. Dualität und Ambivalenz sind die Hauptmerkmale seines Werks, die Klassizität des Stils überbrückt den Abgrund der Inhalte und verdeutlicht ihn zugleich.

Ohne Zweifel sind „Die Falschmünzer“ sein Hauptwerk. Bereits an dessen Form lässt sich die erwähnte Dualität nachweisen. Der Roman enthält zum einen eine leicht nachvollziehbare und mehr oder weniger chronologisch fortlaufend erzählte Handlung, die Ereignisse um eine Gruppe miteinander bekannter oder verwandter Menschen in Paris während einiger Monate im frühen 20. Jahrhundert. Zum anderen jedoch haben wir es im Text mit einer bis zum Erscheinen dieses Buches unbekannten Dokumenten- und Stimmenvielfalt zu tun, die die relativ einfache Handlung jedoch nicht verdunkelt, sondern in allen Verästelungen ihrer Motivation erst transparent macht. So treten neben die unterschiedlichen, oft nicht scharf voneinander geschiedenen Erzählperspektiven noch Briefe und längere Tagebucheintragungen.

Der äußeren Form entsprechend verhalten sich die Inhalte durchweg dialektisch zueinander. „Die Falschmünzer“ sind einmal die Erlebnisse zweier insgesamt positiv gezeichneter Oberschüler – Bernard und Olivier -, die gerade ihr Abitur machen und hoffnungsfroh ins selbständige Leben hinaustreten – sie sind aber auch ein Buch über die Krisen der Älteren, über Treulosigkeit und Ehebruch, das Elend des Greisenalters und über frühreife Kinder, die zu Grausamkeit und Verbrechen neigen. Auf einer anderen Ebene - und zugleich mit der ersten vielfach verknüpft - geht es um Literatur, um Literaten. Oliviers Onkel Edouard scheitert an dem Versuch, einen revolutionär neuartigen Roman über Falschmünzerei zu schreiben (was Gide, dem Edouard nachgebildet ist, in einem weiteren Sinn durchaus gelungen ist). Sein Kontrahent, in der Literatur wie in der Liebe, ist Graf Passavant (Hauptvorbild: Jean Cocteau), der Mittelpunkt eines ebenso erfolgreichen wie zynischen Literaturbetriebs.

Zwei weitere Felder, die Edouards Bewusstsein spiegelt: der rigid-puritanische Protestantismus (dem er, wie Gide selbst, entstammt) mit seiner Überlebtheit und Hohlheit – und praktizierte Homosexualität und ihre relative Akzeptanz. Edouard und Passavant konkurrieren um Olivier – aber Bernard ist ein frühreifer Womanizer, der erst die von Edouard verschmähte Laura anbetet, um danach deren jüngste Schwester zu deflorieren. An diesem Detail wird erneut Gides Kunst, die Motive antagonistisch einzusetzen, deutlich.

Spätestens jetzt stellt sich die Frage, in welchem Jahrzehnt der 1925 erschienene Roman angesiedelt ist. Vieles spricht für die frühen Zwanzigerjahre: der überhitzte Literaturbetrieb, das locker sitzende Geld, der moderne Straßenverkehr mit Automobilen und Taxis, der etwas nonchalante Umgang mit Sexualität überhaupt … Andererseits lässt Gide mit Alfred Jarry einen realen Literaten auftreten, der schon 1907 gestorben ist. Ferner wird als länger zurückliegend der Untergang des Luxusdampfers „Bourgogne“ (1898) erwähnt. So spielt der Roman eben in einer immerwährenden Dritten Republik …

… deren zeitlose Modernität evident wird, wenn Gide sich nebenbei mit den Themen Freier Wille bzw. Frauenemanzipation beschäftigt. Hier muss einfach mal zitiert werden (nach der Übersetzung von Ferdinand Hardekopf), und zwar Edouards alten Lehrer La Pérouse: „Ja, es ist mir klargeworden, dass das was wir unseren Willen nennen, die Drähte sind, die uns Marionetten bewegen und an denen der liebe Gott zieht. Sie verstehen noch nicht ganz, was ich meine? So will ich Ihnen ein Beispiel geben. Ich sage jetzt zu mir: ‚Ich werde meinen rechten Arm hochheben.’ Und ich hebe ihn hoch.“ (Er tat es.) „Aber ich konnte das nur, weil der Draht schon gezogen war, um mich denken und sagen zu lassen: ‚Ich werde meinen rechten Arm hochheben’ … und der Beweis dafür, dass ich nicht frei bin, besteht darin, dass, wenn ich den andern Arm hätte hochheben müssen, ich zu Ihnen gesagt hätte: ‚Ich will meinen linken Arm hochheben’ … Nein, ich sehe, dass Sie mich nicht verstehen! Sie sind eben nicht frei, mich zu verstehen …“ Die Stelle erinnert verblüffend an Versuchsanordnungen der heutigen Neurobiologie.

Oder über Sarah, nachdem deren älteste Schwester Rachel Bernard zum Teufel geschickt hatte: „Rachels fromme Resignation war in ihren Augen nichts als Narrheit. Und in Lauras Verheiratung sah sie nur ein elendes, zur Sklaverei führendes Geschäft. Ihre eigene Lebenserfahrung hatte sie (zu dieser Schlussfolgerung war sie gelangt) recht wenig zur ‚ehelichen Unterwürfigkeit’ prädestiniert. Sie vermochte nicht einzusehen, inwiefern ein etwaiger Ehemann ihr geistig überlegen sein sollte. Hatte sie nicht ihre Examina bestanden, ebensogut wie die männlichen Kandidaten? Hatte sie nicht über alle Fragen ihre persönlichen Ansichten, ihre ganz bestimmten Ideen? War sie nicht überzeugt von der Gleichwertigkeit der Geschlechter? …“

„Die Falschmünzer“ sind ein Buch für im Laufe eines langen Lebens gelegentlich wiederholbare Lektüre. In seinen frühen Jahren wird der Leser einbezogen in die Abenteuer anderer junger Menschen, wird neugierig gemacht auf die Welt und bekommt Mut für die Zukunft. Bei jeder weiteren Begegnung vertieft sich der Eindruck von Klarheit und Energie. Ich selbst wandle heute ein Wort des alten Gide über Vergil so ab: „Und ich greife wieder zu Gide, der mich nicht eigentlich mehr überrascht, aber doch ständig entzückt.“

[*] Diese Rezension schrieb: Arno Abendschön (2011-08-31)

Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.


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