Seinen internationalen Siegeszug hat dieses klein Büchlein mit großen Einsichten wohl durch die Beatnik und Hippie-Kultur erlangt, wie der Herausgeber im Nachwort schreibt. Tatsächlich zählt Gibran neben Shakespeare und Lao-Tse zu den erfolgreichsten Autoren aller Zeiten.
Komplementäre Lebenseinstellung
Die Handlung erzählt von dem Profeten Almustafa, der zwölf Jahre auf seine Rückreise in seine Heimat gewartet hat und nun auf das Schiff wartet, das ihn in seine Heimat bringt. Beim Abschied eilen die Bewohner der Stadt Orfalis herbei und stellten ihm zum letzten Mal brennende Fragen, die er mit seiner Weisheit beantwortet. 26 kleine Reden werden es dann insgesamt, die von den wichtigsten Dingen des Lebens handeln: Liebe, Ehe, Kinder, Geben, Essen und Trinken, Arbeit, Freude und Leid, Häuser, Kleidung, Kaufen und Verkaufen, Verbrechen und Strafe, Gesetze, Freiheit, Verstand und Leidenschaft, Schmerz, Selbstkenntnis, Lehren, Freundschaft, Reden, Zeit, Gut und Böse, Gebet, Genuss, Schönheit, Religion und Tod. Ganz anders als im westlichen Denken werden die Begriffe aber nicht als Gegensätze gedacht, sondern komplementär verstanden. So sind etwa Freude und Leid für Gibran nur zwei Seiten derselben Medaille: „Eure Freude ist euer Leid ohne Maske“, verkündet er etwa, „(...)Je tiefer das Leid in euer Wesen dringt, um so mehr Freude könnt ihr fassen.“ Der Usprung des Leids sei auch der Ursprung der Freude. „Beide sind nicht zu trennen.“
Liebe und Wildwuchs
Besonders schön sind auch seine Gedanken über die Liebe und die Ehe, die ebenso komplementär gedacht wird. Liebe würde einen ebenso krönen wie kreuzigen, wachsen lassen, aber auch den „Wildwuchs“ stutzen. „Sie (die Liebe, JW) drischt euch, um euch zu entblößen./Sie siebt euch, um euch von der Spreu zu trennen./Sie mahlt euch, bis ihr weiß geworden seid./Sie knetet euch, bis ihr geschmeidig werdet;“. Bereitwillig und freudig müsse man bluten, wenn man sich auf sie einläßt und „In der Mittagsstunde zu ruhen und über den Liebesrausch sinn“. Eheleuten gibt Gibran im nächsten Kapitel, „Ehe“, dann die Empfehlung, die Liebe nicht zur Fessel zu machen, „Lasst sie besser ein bewegtes Meer zwischen den Gestaden eurer Seelen sein“. Wichtig sei, zusammen zu singen und zu tanzen und zu freuen, aber doch auch einander allein sein zu lassen. „Denn die Säulen des Tempels stehen für sich,/Und Eiche und Zypresse gedeihen nicht in des anderen Schatten.“
Gibran, Khalil: Der Prophet
Übers.: Kierdorf, Theo
2020, Hardcover, Geb. Format 9,6 x 15,2 cm, 93 S.
ISBN 978-3-15-011284-7
8,00 €
Reclam Verlag
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2020-09-22)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.