Um es gleich vorweg zu sagen: „Der Duft des Waldes“ ist mein absolutes Lieblingsbuch dieses Sommers. Trotz monumentaler 700 Seiten und einer sehr vielsträngigen Geschichte, die sich über ein ganzes Jahrhundert erstreckt und bei der viele verschiedene historische und aktuelle Themen behandelt werden, hat mich dieser Roman aus Frankreich nicht losgelassen.
Die Protagonistin dieses Romans heißt Elisabeth Bathori. Sie arbeitet als Historikerin in einem Archiv für Fotogeschichtsschreibung und hat sich auf alte Postkarten spezialisiert. Zwei Jahre ist es jetzt her, dass die Liebe ihres Lebens an einem Hirntumor starb. Dieser Tod hat sie in eine lange Phase depressiver Trauer gestürzt, aus der sie ihr Chef versucht herauszuholen, indem er sie mit der hochbetagten Alix de Calendar bekannt macht, die eine unschätzbar wertvolle Sammlung alter Briefe, Postkarten und Fotos besitzt, die ihr Onkel Alban seinem besten Freund, dem berühmten Dichter Anatole Massis von der schrecklichen Front des Ersten Weltkrieges geschrieben hat.
Sofort ist Elisabeth fasziniert von diesen Dokumenten, die sie auch ganz persönlich in der Tiefe ihrer trauernden Seele ansprechen, denn es geht in ihnen um Liebe, Vertrauen, Verlust, Sehnsucht und Erinnerung. Sie beginnt sofort sich in die Briefe von Alban de Willecot einzulesen, die Helene Gestern in chronologischer Folge zwischen den einzelnen Kapiteln des Buches abdruckt, als Alix de Calendar stirbt und Elisabeth zu einem Notar gerufen wird. Alix hat ihr ein Haus im Süden Frankreichs vererbt, das nun in der nächsten Zeit zu einem Ort wird, wo ihre Seele zur Ruhe kommt.
Die aufwändige Recherche, die sie über die Briefe Albans beginnt, verleiht ihrem Leben nicht nur den Hauch eines neuen Sinnes, sondern führt sie auch nach Portugal zu einer Frau namens Violeta, die sie um Hilfe bei der Suche nach einer jüdischen Vorfahrin bittet. Dort lernt Elisabeth den Anwalt Samuel kennen, den stillen Bruder von Violeta, in den sie sich gleich verliebt. Ihre durch schwere biographische Erfahrungen geprägte komplizierte Liebesgeschichte ist ein Strang des Romans, der immer wieder durch neue Entdeckungen und Überraschungen aufwartet.
So kommt Elisabeth in den Besitz eines Tagebuchs von Diane, einer damals 17-jährigen, die mit Alban an der Front korrespondierte und auch mit Anatole Massis eine Beziehung gehabt zu haben scheint. Elisabeth gelingt es, das codierte Tagebuch zu entschlüsseln und entwickelt eine Theorie über die Beziehung der drei.
Doch so wie der Leser durch immer neue Wendungen überrascht und ständig von Helene Gestern auf neue Wege geführt wird, ohne dass sie selbst ihren Faden verliert, muss auch Elisabeth immer wieder neu ansetzen in ihrer Forschungsarbeit.
Diese langwierige Spurensuche hilft Elisabeth aus einer Sackgasse in ihrer eigenen Biographie, sie findet dabei die Kraft, den Verlust ihres Liebsten zu verarbeiten und eine neue Perspektive für ihr Leben zu entwickeln. Diese Perspektive entwickelt sich aber erst langsam, immer wieder gestört durch Rückschläge in ihrer neuen Beziehung zu Samuel und drohenden Selbstverlust durch das rastlose Arbeiten an immer mehr historischen Dokumenten, die auf oft seltsame Weise auftauchen, obwohl sie als verloren galten.
Eine Menge durchaus wichtiger Charaktere können hier nicht alle erwähnt werden, es sind zu viele. Doch jeder hat für die Handlung des Romans eine wichtige Funktion, die in vielen Fällen erst am Ende des Buches offenbar wird.
„Der Duft des Waldes“ ist ein großes ein ganzes Jahrhundert überspannendes Werk, voller Tiefe und sich durch eine breite Themenvielfalt auszeichnend, vom Elend des Ersten Weltkrieges, über die Judenverfolgung während der deutschen Besatzung bis hin zur Flüchtlingskrise der Gegenwart. Doch es wird nie zu viel. Helene Gestern hat die Fäden ihres Stoffes immer im Griff und führt den Leser sicher durch einen spannenden und unterhaltsamen Roman, dem man hierzulande viele LeserInnen wünscht.
Helene Gestern, Der Duft des Waldes, S. Fischer 2018, ISBN 978-3-10-397343-3
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2018-08-20)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.