Am Ende meiner Rezension zu Gunther Geltingers Debütroman „Mensch Engel“ im Jahr 2009 schrieb ich:
„Gunther Geltinger ist ein furioser Auftakt gelungen, doch man hat erhebliche Zweifel, ob er noch einmal diese Kraft aufbringen wird für ein Buch, vielleicht auch mal eines außerhalb seiner ghettoartigen Existenz. Er hat viel in Schwulenzeitschriften veröffentlicht, doch ich wünschte mir ein Buch, in dem diese Thematik einmal nicht endlos variiert wird.“
Er hat sich für seinen zweiten Roman viel Zeit genommen und wieder variiert er das Thema Homosexualität, doch er hat es eingebettet in eine Geschichte, die er erzählen lässt vom Moor. An dessen Rand nämlich wächst der 13- jährige Dion Katthusen mit seiner psychisch erheblich gestörten Mutter Marga auf. Immer wieder während der Kindheit von Dion übertritt seine Mutter die Grenzen einer für das Kind gesunden Eltern-Kind-Beziehung, bis hin zum sexuellen Missbrauch.
Dion wächst auf in einer von Geltinger brillant beschriebenen, engen, geradezu gespenstischen Atmosphäre, aus der ihm jedoch erste Schritte eines Ausbruchs gelingen. Er entdeckt sowohl seine Liebe zur Pfarrerstochter als auch seine ersten homosexuellen Neigungen.
Mit einer kräftigen und bildreichen Sprache, in der sich der Erzähler und das Erzählte kunstvoll abwechseln, verknüpft Geltinger immer wieder geschickt die Ebenen von Realität und Traum.
Dion kann, weil er stottert, nur in sich selbst zur Sprache kommen. Deswegen lässt Geltinger das Moor erzählen über den Zeitraum eines ganzen Jahres.
Doch irgendwann kommt der Leser zu einer Stelle, wo es unklar und unsicher wird, ob sich das alles so zugetragen hat, oder alles doch ganz anders war.
Ein Roman voller faszinierender Naturbeschreibungen. Ein Buch über Depression, Sucht und Missbrauch, über erwachende jugendliche Sexualität und um soziale Ausgrenzung von Menschen, die anders sind.
Mit diesem berührenden Buch hat Gunther Geltinger gezeigt, dass er ein großer Schriftsteller werden kann.
Gunther Geltinger, Moor, Suhrkamp 2013, ISBN 978-3-518-42393-6
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2014-01-13)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.