„Was war geschehen? Was hatte Materazzi zu Zidane gesagt? Lange wurde gerätselt. Seit dem 18. August 2007 ist es klar, weil Materazzi selbst es an diesem Tag im Fernsehen und übrigens bedauernd, geradezu zerknirscht, berichtet hat. Materazzi hatte Zidane damals am Hemd angefasst, worauf dieser zu ihm gesagt habe (auch Zidane spricht ja, wenn er will, italienisch): „Wenn dir mein Hemd so gefällt, kannst du es nachher haben!» Darauf nun Materazzi: «Preferisco la puttana di tua sorella!» Also ganz genau und wörtlich übersetzt: «Ich ziehe die Nutte von deiner Schwester vor!» Das war’s. Da also lief Zidane zunächst weg, kehrte dann aber, nachdem er sich klar gemacht hatte, was Materazzi gesagt hatte, mit einem Entschluss wie ‹nein, das geht nun nicht anders!› zurück und stieß den Verdutzten nieder.“
“Baiser“ oder „faire l’amour“?
Eigentlich ein kurzes Gespräch also, das in eine Handlung mündete, die nicht mehr sprachlich war, und den Ausgang der Weltmeisterschaft so nachhaltig beeinflusste. Gauger will bei seinem Beispiel vor allem festhalten, dass auch Materazzi‘s „Satz“ eine Handlung war – nur eben eine „bloß sprachliche“. Es sei eine regelrechte „Handlung“ in beiden Fällen gewesen mit dem bloßen Unterschied - der schon auch wichtig sei - zwischen „bloß sprachlich“ und „nicht mehr bloß sprachlich“. Und was sagt uns die Sprache über die Welt? Zitieren wir ein anderes Beispiel aus Gaugers „erster Annäherung“ sehen wir bald, was Sprache tut und mit der Wirklichkeit macht: „Ein man ein wip, ein wip ein man/Tristan Isot, Isot Tristan“ heißt es bei Gottfried von Straßburg, dem Verfasser des Epos“ Tristan und Isolde“ im Original. Braucht man noch mehr zu wissen? „Sie sind sich gegenseitig ihre Welt.“, schreibt Gauger und so sei es auch in Rodins Bild „le baiser“, der Kuss, was auch „sexuell besitzen“ heißen könne.
(Nicht-)“Bloß“-sprachlich?
„L’acte de la posession physique ou d’ailleurs l’on ne possede rien“ soll Proust dazu einmal gesagt haben und Gauger ist schon bei „faire l’amour“ angelangt. Beide Wörter hätten nämlich einen viel älteren Ausdruck verdrängt, das altbekannte und immer noch beliebte „foutre“, das eigentlich ganz profan für „Sperma“ steht. „Ce sont des gens qui ne foutent rien du tout, qui se tiennent les couilles pendant toute la journée.“, wäre wohl das gewesen, was Zidane über Materazzis Verwandtschaft hätte sagen können, hätte er nicht mit einer „nicht-bloß-sprachlichen“ Reaktion auf die „bloß sprachliche“ Aktion des letzteren schon geantwortet gehabt. Aber ob dieser ihn verstanden hätte? Hans-Martin Gauger schreibt in seinem Buch um Sexualität im Sprachvergleich, genauer: um Sexuelles und Fäkalisches beim groben Sprechen. Wenn Deutschsprachige schimpfen, beleidigen, fluchen und überhaupt vulgär werden, würden sie normalerweise Ausdrücke verwenden, die sich auf Exkrementelles beziehen, während unsere (romanischen) Nachbarsprachen zu diesem Zweck fast immer ins Sexuelle übergehen. Liegen die beiden Bereiche denn so weit auseinander? Gibt es Gründe für den „deutschsprachigen Sonderweg“? Anhand einer überwältigenden Fülle an Beispielen aus über einem Dutzend Sprachen zeigt Hans-Martin Gauger wie sich richtig gut fluchen und schimpfen lässt, damit es auch in Zukunft bei den „bloß-sprachlichen“ Handlungen und Annäherungen bleibt
Gauger, Hans-Martin
Das Feuchte und das Schmutzige
Kleine Linguistik der vulgären Sprache
2012. 283 S.: Klappenbroschur
C.H.BECK
ISBN 978-3-406-62989-1
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2013-09-24)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.