Mattieo de Nittis ist ein einfacher Taxifahrer. Für philosophische Überlegungen, religiöse Mythen und überhaupt für all das, was außerhalb seines täglichen Versuches steht, das Leben für sich und seine kleine Familie zu sichern, hat er weder Zeit noch großes Interesse.
In Neapel herrschen harte Sitten, gerade in den Vierteln, die völlig außerhalb jedweden touristischen Interesses stehen.
Doch all dies ändert sich in Sekundenbruchteilen. Als Matteo seinen kleinen Sohn Pippo eilig zur Schule bringen will, gerät er mitten hinein in den täglichen Sog der Gewalt in Neapel. Bei einer Schießerei auf offener Strasse gelingt es ihm nicht schnell genug, sich schützend über seinen Sohn zu werfen. Pippo stirbt. Und das Leben des einfachen Mannes Matteo zerbricht.
Seine Frau will ihren Sohn zurück, zumindest aber ihre Blutrache erfüllt sehen. An beidem scheiter Matteo kläglich und findet sich letztendlich verlassen von seiner Frau in einem Zustand inneren Todes nur mehr wie ein schmerzgefüllter Schatten durch eine Welt voller Härte, Gewalt und Desinteressen aneinander taumelnd wieder.
War sein Leben im armen Neapel vorher schon schwer, so ist es jetzt eigentlich nicht mehr vorhanden. Ein Gestrandeter ist er und findet bald Umgang mit den anderen Gestrandeten an der trostlosen Küste des Lebens. In einer Bar trifft er auf, von Gaude, eindringlich gezeichnete Charaktere, auf Menschen, die in ihren ganz eigenen Welten Leben. Ein Hoffnungsschimmer taucht auf in all den wirren Erzählungen, deftigen Sprüchen und Selbstdarstellungen der geschädigten Gestalten. Es soll da einen Übergang zur Totenwelt geben, ganz in der Nähe, im alten Hafen Neapels. Und so macht sich Matteo, der lebende Tote, wie Orpheus auf, um das tote Kind ins Leben zurück zu bringen, hinein wieder in diese Welt, in der alles aneinander nur mehr vorbeigleitet, in der um des eigenen, noch so kleinen, Vorteils willen jedwede Gewalttat billigend in Kauf genommen wird. Unterstützt von seinen neuen Bekannten, die doch auch nicht mehr sind als solitäre Inseln im Strom des modernen Lebens, jeder für sich in einer ganz eigenen, inneren Welt lebend. Dennoch taucht Hoffnung in Matteo auf, wie ein fahler Schimmer am Horizont seines Leides und so macht er sich auf den Weg mit dem Professor, der ein ganz anderes Totenreich beschreibt, als es bekannt sein mag, der Zielschiebe brutaler Späße und Übergriffe ist und dem Priester, der sich den Armen zuwendet und selbst schwankt wie im starken Wind.
Laurent Gaude nimmt kein Blatt vor den Mund. In klarer, eindrücklich bildhafter Sprache beschreibt er minutiös die Kälte der Welt, das Desinteresse aneinander, die allgegenwärtige Gewalt im Neapel der dunklen Gassen. Ebenso ungefiltert lässt er dem Schmerz Matteos freien Lauf, aber auch der Hoffnung, die sich ganz anders erfüllen wird, als er es sich vorstellt, die sich aber dennoch erfüllen wird. Eine Erfüllung, in der sich zeigt, und das ist das eigentliche literarische Thema der Geschichte, dass die Toten immer Teil der Lebenden waren und sein werden. Das der Mensch in sichtbaren und unsichtbaren Bindungen steht, will er Mensch sein. Bindungen, die Gaude auf den letzten Seiten seiner Geschichte in ihrer momenthaften Realität noch einmal in den Raum zu setzen versteht.
Sprachlich klar und präzise, teils fast unerträglich direkt, erzählt Gaude seine Geschichte von der Gewalt, dem Tod, der Verbindung, die bleibt und der Fiktion, dem Totenreich ein Leben wieder entreißen zu können, mit allen Folgen, die das mit sich bringt. Ein Abbild der Schattenseiten unserer modernen Welt ist ihm gelungen, dass noch lange nachhallt. In manchen Teilen vielleicht zu entrückt, zu distanziert und befremdend in der Ausgestaltung seiner Protagonisten, dennoch aber ein durchaus eindrucksvolles Buch im Blick auf, zum einen, die inneren Bindungen, die Menschen in sich tragen und zum zweiten auf die geringe Wertschätzung, die Bindungen an sich in dieser dunklen Seite der Welt besitzen.
[*] Diese Rezension schrieb: Michael Lehmann-Pape (2010-10-24)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.