Wenn erfolgreiche Literaten zur Feder greifen, um ihre Memoiren zu schreiben, dann ist das nicht immer ein Anlass zu übergroßer Freude. Nicht selten fallen die Erzählungen aus dem eigenen leben weit zurück hinter die großartigen Werke der Fiktion, die in ihrer Erlebnisdichte wie Metaphorik kaum durch das Profane des Alltags überboten werden können. Der 1927 geborene Nobelpreisträger Gabriel Garcia Marquez hat kurz nach der Jahrtausendwende den vermutlich ersten Teil seiner Memoiren herausgegeben, ohne große Werbekampagne im Voraus und ohne knisternde Versprechung im Titel.
Garcia Marquez, der zweifelsohne zu den gegenwärtig großen lebenden Erzählern in der Literatur zählt, hat es nicht nötig, aus dem selbst Erlebten eine reißerische Story zu machen, mit der sich ein vermeintlich noch größerer Ruhm erzielen ließe. Vielmehr entfaltet Gabito, wie er von Freunden genannt wird, in über sechshundert Seiten ein Bekenntnis zu der großen Passion seines Lebens, dem Schreiben. Im Grunde handelt es sich um ein Buch, in dem Garcia Marquez den Leser in seine Werkstatt einlädt, um ihm über seine Schulter schauen zu können, wie Werke wie Hundert Jahre Einsamkeit, Liebe in Zeiten der Cholera, Ein General in seinem Labyrinth etc., die in alle Weltsprachen übersetzt wurden und auf allen Kontinenten gelesen wurden, entstanden.
Und wieder einmal kann die Erfahrung gemacht werden, dass Weltliteratur nicht unbedingt in den Metropolen, sondern in der Provinz entstehen kann, in der vor allem das Genre der Epik als Erbe der mündlichen Erzähltradition in voller Blüte steht. Garcia Marquez erzählt von seinen Eltern, Geschwistern, Großeltern, Onkeln und Nachbarn, er holt den kolumbianisch-karibischen Mirkokosmos mit seinem Aberglauben, Animismus, seiner Mystik und tropischen Lebensfreude in das Zentrum der Betrachtung. Sofort wird deutlich, dass die großen Romane des Autors schon in seiner Kindheit thematisch auf einem kleinen Fleckchen Erde bereit lagen und nur noch durch einen Epiker geborgen werden mussten, der sich nicht nur traute, diese Stoffe zu verwerten, nein, der es bei seinem Leben musste, sonst wäre er untergegangen.
Das Sujet seiner Literatur ist das Volk und seine ans Absurde grenzende Kreativität und Liebe, die großen politischen Ereignisse im andinen Bogotá seiner jungen Jahre spielen zwar auch eine, aber letztlich untergeordnete Rolle, zumal der Karibe Garcia Marquez sie als kritischer und mutiger Journalist stets begleitet hat. Aber die eigentliche Geschichte, die vollzieht sich aus Sicht dieses Autors im kollektiven Gedächtnis der kleinen Leute, die jeder lüsternen Verführung aufgeschlossen gegenüberstehen und die keinen Versuch scheuen, vom Teller der bitteren Enttäuschung zu kosten.
In seinen Memoiren gewährt Gabriel Garcia Marquez Einblicke in das große Konstruktionshaus des von ihm begründeten magischen Realismus, es ist die Freigiebigkeit eines Meisters, der schon lange kein Plagiat mehr fürchten muss.
[*] Diese Rezension schrieb: Gerhard Mersmann (2009-07-21)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.