„Wir können nichts dagegen tun.“, soll die Antwort Moskaus auf die ostdeutschen Proteste gegen die Öffnung des Eisernen Vorhangs in Ungarn gewesen sein. Der Zusammenbruch des „Ostblocks“ begann wohl u.a. mit dem Besuch Miklos Nemeths in Moskau bei Gorbatschow und seinen Worten: „Jedes sozialistische Land entwickelt sich auf seine eigene Weise. (…) Die Führungen sind vor allem dem eigenen Volk verpflichtet.“ Das war Anfang 1989 noch ein gewagter Satz, Ende 1989 wurde er zur Realität, die alle überrollte und überraschte und wohl alle bisherigen Revolutionen in den Schatten stellte.
Wie John Lewis Gaddis in „Der Kalte Krieg. Eine neue Geschcihte.“ schreibt, sei „1989“ die erste Revolution gewesen in der kein Blut floss oder zumindest im Verhältnis zu der Bedeutung der Ereignisse nur sehr wenig Blut. Und noch etwas betont Gaddis: was 1917 angeblich geschehen war, nämlich ein spontaner Aufstand von Arbeitern und Intellektuellen, war nun, 1989, tatsächlich passiert. Der vermeintliche real existierende „Kommunismus“ hatte ausgerechnet das hervorgebracht, was Marx und Lenin sich ja eigentlich vom Kapitalismus erwartet hatten: eine breitenwirksame Revolution, die massenweise diktatorische Regime hinwegfegte und zu einem neuen System führte. (Gaddis 2007: 294)
Ungarns ehemaliger Ministerpräsident Miklos Nemeth hatte mit seinen Worten und dem beginnenden Abbau des grünen Zauns „aus Gesundheitsgründen“ (O-Ton) sicherlich ebenso zum Zusammenbruch des kommunistischen Systems beigetragen, wie die die polnische „Solidarnosc“, die im Juni 1989 im polnischen Parlament, dem Sejm, alle Sitze gewann. „Das ist ausschließlich eine polnische Angelegenheit“, soll Gorbatschow kommentiert haben. Die erste nichtkommunistische Regierung, die unter Tadeusz Mazowiecki am 24.August 1989 in Polen angelobt wurde, war nicht nur für Polen, sondern für ganz Osteuropa ein Novum, ein so wichtiges Ereignis, dass der neue Ministerpräsident bei seiner eigenen Angelobung sogar selbst in Ohnmacht fiel. Er war sich wohl der Bedeutung und des Stellenwertes seines eigenen Erlebnisses für die Zukunft Osteuropas allzu bewusst geworden.
Ganz anders verhielt es sich allerdings mit der DDR. Bei den Wahlen im Mai 1989 hatten die Kommunisten, die SED, 98,95% der Stimmen erreicht. Aber wer hatte sie gewählt? Seitdem in Ungarn der Stacheldrahtzaun abgebaut worden war, flüchtete das Volk massenweise über die grüne Grenze. Im September waren 130.000 Ostdeutsche in Ungarn. 3000 weitere ostdeutsche Flüchtlinge kletterten über den Zaun der deutschen Botschaft in Prag und verlangten die sofortige Ausreise. Honecker wollte sich wohl aufgrund des baldigen 40. Jahrestages der DDR eine Blamage ersparen und erlaubte Prag die Ausreise der DDR-Flüchtlinge, aber ausdrücklich nur in plombierten Eisenbahnwaggons. Ironie der Geschichte: So wie einst Lenin nach Russland von den Deutschen eingeschmuggelt wurde, um dort dem Kommunismus an die Macht zu verhelfen, resp. das Zarenregime zu stürzen, so flohen die Deutschen 1989 nun aus dem kommunistischen Osten in den kapitalistischen Westen. Tatsächlich sprangen einige „auf den fahrenden Zug“ und retteten sich so in die heißersehnte Freiheit. Die sprichwörtlichen Trittbrettfahrer erhielten auch so eine reale Würdigung.
Als Michael Gorbatschow dann am 7./8. Oktober zum Jubiläum „40 Jahre DDR“ in Ostberlin weilte und das Volk Parolen wie „Gorbi hilf, Gorbi bleib“ skandierte, soll der legendäre Satz gefallen sein: „Wer zu spät kommt, den bestraft das Leben.“ So so oder so ähnlich, wie auch die renommierte FAZ schreibt: http://www.faz.net/artikel/C30190/15-jahre-danach-wer-zu-spaet-kommt-den-be straft-das-leben-30188933.html Honecker trat dann auch am 18. desselben Monats zurück und sein Nachfolger Egon Krenz, der zuvor in Peking weilte und Schüsse auf Demonstranten wohl auch deswegen ablehnte, so Gaddis, blieb ganz ruhig. Ganz anders sein Parteikollege und Genosse Günter Schabowski, Mitglied des Politbüros. Schabowski verkündete die Abmilderung der Beschränkungen der Reisefreiheit in den Westen, wie in einer Sitzung des Politbüros an der er nicht teilgenommen hatte, beschlossen worden war. Doch Schabowski verkündete - quasi versehentlich -die Ausreisegenehmigung über alle Grenzübergangsstellen ab sofort und die Medien übertrugen seine Ankündigung quasi live in die Welt:
„Das tritt nach meiner Kenntnis…ist das sofort, unverzüglich.“, sollen seine Worte gewesen sein. Jetzt war die Mauer tatsächlich offen, denn Tausende DDR Bürger stürmten die Grenzübergänge und die Beamten hatten keine Befehle.
In Bulgarien trat Todor Schikow (seit 1954 im Amt) seinen Rücktritt bekannt. In Prag gab es ab 17.November Demonstrationen und Alexander Dubcek, Leitfigur des Prager Frühlings wurde zum Parlamentspräsidenten gewählt und der Schriftsteller und Dissident Vaclav Havel bald zum Präsidenten. In Rumänien war die Revolution zwar etwas blutiger (95 Tote) aber dennoch relativ harmlos, da die Partei selbst ihren Vorsitzenden füsilierte, um sich irgendwie noch an der Macht zu halten. Im Dezember war es aber auch damit vorbei. Ceausescu wurde übrigens am Weihnachtstag, dem 24.12.1989 im Fernsehen hingerichtet. Bald pfiff man auch durch Moskaus Gassen nur mehr ein Lied, ein Lied von Frank Sinatra mit dem Titel „My way“: Gennadi Gerasimow, der Sprecher des sowjetischen Außenministeriums hatte einen Witz gemacht: „Was von der Breschnew-Doktrin noch übrig ist?“, soll er gefragt haben und sich selbst die Antwort gegeben haben: „Wir haben jetzt die Sinatra-Doktrin“. „I did it my way…“.
Zum 20. Jubiläum des Zusammenbruchs der Sowjet (31.12. 1991) und 25-jährigen Jubiläum der Gorbatschow Rede vom XXVII. Parteitag der KPdSU (Februar/März 1986) ein willkommenes Buch zur Re-Lektüre der wichtigsten historischen Ereignisse des 20. Jahrhunderts.
John Lewis Gaddis
Der Kalte Krieg – Eine neue Geschichte
Pantheon Verlag 2007
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2011-07-03)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.