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Rezensionen


 
Max Frisch - Stiller
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Frisch, Max:
Stiller

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(Bücher frei Haus)

Was ist nur mit diesem Roman, dass er mich so fasziniert (ich verschlinge sogar schon Kommentare der hauptamtlichen Damen und Herren Literaturkritiker!)?
Das blaue(hellblaue?), untersetzte und etwas abgegriffene Suhrkamp-Taschenbuch liegt nun wieder einmal vor mir; die vierhundertfünfzig Seiten – von der Seite betrachtet – schon mittelprächtig vergilbt: Kein Wunder – an ein Taschenbuch gehen zwanzig Jahre nicht spurlos vorüber, obwohl natürlich stets schonend behandelt (ich habe kein Verständnis, wenn die Leute – der Bequemlichkeit halber – ihre Taschenbücher beim Lesen in der Mitte umbiegen und das widerstrebende Papier in unnatürlicher Weise mit ihren Pranken klammern…).
Ich muss zugeben: Ich mag das Buch, d.h. sein Äußeres und seinen für Bücher dieses Alters typischen Papiergeruch.
Aber das Beste ist natürlich nach all diesen doch nicht unerheblichen Nebensächlichkeiten sein Inhalt:
Mit dem Motto von Sören Kierkegaard, unter das Frisch seinen Roman gesetzt hat, habe ich mich immer schwer getan: Die Sprache dieser Philosophen ist so beneidenswert (bemitleidenswert?) abstrakt und doch ohne Fremdworte (!).
Stiller, dieser für unsere Generation der Karriere machenden, Krawatte tragenden, täglichen „meetenden“ Jungmanagern vermutlich vollkommen idiotische Versager wird für dieselben auf immer verschlossen bleiben. Man hat einfach keine Zeit für solche Spinner, Nichtsnutze…wie Stillers Rechtsanwalt (Rechtsanwalt ist geradezu grotesk!), der der von Frisch angeprangerten Scheinwelt der Verlogenen angehört…
Aber weiter: Stiller hält sich ja selbst für einen Versager, also muss es doch wohl stimmen! Hat’s nicht geschafft, seine Porzellanpuppe umzustricken (sie quälen sich beim bloßen Beieinandersein; Julika fragt dauernd: „Was will dieser Mann von mir?“). Dann die Sache mit dem Spanischen Bürgerkrieg – damals, am Tajo: Wieso kann er nicht damit fertig werden? frage ich mich!
Aber: Seine Skulpturen will auch kein Mensch kaufen! Das kann ich schon eher nachvollziehen… Letztendlich steht aber für mich fest: Julika, die Kalte, macht ihn zum Emigranten.
Über seine Zeit in Amerika erfahren wir in kurzweiligen, nach Interpretation schreienden Anekdötchen…: Jim & Jim insbesondere (die Höhlengeschichte), und Florence, die Geschichte von der schönen Mulattin mit den ewigen Stöckelschuhen. Und in der Florence-Geschichte hören wir auch von Stillers Katzen-Antipathie. Manchmal erblickt er in der Katze (ihr Name war „Little Grey“) Julika – vielleicht versucht er deshalb, sie (die Katze) umzubringen…
Es gibt in Amerika kein Vergessen, kein Verarbeiten des bisherigen Lebens für Stiller, also mündet man in einem erfolglosen Selbstmordversuch – und jetzt geschieht es: Er sagt sich: Entweder „falscher“ Tod (weil künstlich herbeigeführt) oder, und dieser Fall tritt ein: Weiterleben, neu anfangen und irgendwann natürlicher Tod!
Er kehrt zurück nach Europa, in die enge Schweiz, und hat subjektiv eine neue Identität angenommen: Das kann und will die Gesellschaft nicht hinnehmen, kennt man den Heimkehrer doch als den ehemals Verschollenen!
Aber: Er kehrt doch zurück, weil er von Julika nicht loskommt, von der „Hassliebe ihrer beider Leben“, weil er, Stiller-White, noch einmal dem Versuch erliegt, sie nach seinen Maßstäben ändern zu wollen: Sie, die Unnahbare, Frigide, Zerbrechliche, Willensstärkere…
Es wird ihm schwer gemacht, von vorn zu beginnen: Die Mitglieder der Gesellschaft, drängen ihn immer weiter in die Rolle Stillers zurück; er hat keine Chance – sie inhaftieren ihn, bis er wieder Stiller zu sein hat… Per Gerichtsurteil wird White zum Stiller, von ihm selbst freilich weiter geleugnet, jedoch: Wozu das alles?
Die Aufzeichnungen Stiller-Whites im Gefängnis sind zu Ende. Im Nachwort Rolfs, des Staatsanwaltes, des Freundes, des ehemaligen Nebenbuhlers (Welche Zufälle, denkt man, welche Grotesken!), erfährt man, wie es mit Stiller und seiner Rühr-mich-nicht-an-Julika weitergeht: Sie ziehen in ein altes Bauerngehöft am Genfer See – und: Wenigstens teilweiser Fortschritt wird erkennbar: Stiller betätigt sich als Töpfer, nachdem seine Bildhauerei nichts einbringt. Mit Julika hingegen bleibt alles beim Alten. Als Rolf, der Staatsanwalt, auftaucht und sich in eines der wenigen Gespräche mit ihr vertieft, stellt sie erneut die alte Frage: „Was will dieser Mann nur von mir?“
Als Julikas ewiges Lungenleiden kritische Formen annimmt und sie ins Krankenhaus aufgenommen wird, beginnt Stillers endgültiger Befreiungsakt von ihr – so paradox es klingt: Als sie stirbt, hat Stiller sich von ihr gelöst und es gelingt ihm sogar, alleine in Glion am Genfer See zu leben.
Trotzdem kann von einem „Happy End“ keine Rede sein. Der Schluss kommt unvermittelt, schnell und karg formuliert. Man bedauert es, sich nun trennen zu müssen von dem Charakter, in den man sich – wie ich finde – so intensiv versetzt hat und den Frisch so überzeugend dargestellt hat. Es ist, als könne man nach Montreux fahren, Glion suchen und dort einen zufälligen Passanten nach Stiller fragen, und schon wies der Gefragte auf ein einzeln stehendes, am Hang über dem Ufer des Genfer Sees liegendes Gehöft, das von Unkraut und hohem Gesträuch umwuchert, von diesem bewohnt würde…
Einmal sagt Julika: „Stiller“ wäre sein Spitzname, da er ein so ruhiger Zeitgenosse sei…“ oder so ähnlich. Leider habe ich mir die Stelle nicht gemerkt…


[*] Diese Rezension schrieb: Thomas Kempken (2006-08-26)

Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.


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