Zu ihrem mit dem Bremer Literaturpreis 2018 augezeichneten letzten 2017 erschienenen Roman „Die Königin schweigt“ schrieb die Jury vor einem Jahr:
„Mit dem Förderpreis des Bremer Literaturpreises wird Laura Freudenthaler fu?r „Die Königin schweigt“ ausgezeichnet. Ein stiller, konzentrierter Roman, der eine alte Frau, die sich gegen das Erinnern und das Erzählen sperrt, auf ihr von Verlusten bestimmtes Leben zuru?ckblicken lässt. Freudenthaler zeichnet das eindringliche Porträt einer Generation, die ein scheinbar unspektakuläres Dasein fu?hrte, in dem sich aber tatsächlich die große Geschichte verbirgt.“
Auch der neue Roman von Laura Freudenthaler, der wieder beim kleinen ambitionierten Droschl Literaturverlag in Österreich erschienen ist, entzieht sich auffallend deutlich dem literarischen Mainstream der Gegenwartsliteratur.
„Geistergeschichte“ erzählt von der etwa 50 -jährigen Klavierlehrerin Anne. Sie hat beschlossen, sich ein Freijahr, andernorts auch „Sabbatjahr“ genannt, zu gönnen und während dieser Zeit sich ohne Unterrichtsverpflichtungen ausschließlich dem eigenen Klavierspiel zu widmen und nebenbei ein Lehrbuch zu verfassen.
Doch bald schon kommt sie von dem vorgezeichneten Weg ab und sie gerät in einen Sog, in dem sie sich regelrecht aufzulösen droht und in den die Autorin den Leser auf eine Weise mitnimmt, der er sich nicht entziehen kann. Ihre üblichen Gewohnheiten vernachlässigend und ihr Vorhaben aus den Augen verlierend, streift Anne tagsüber durch die Stadt und überschreitet die Grenzen des ihr bisher Bekannten. Nachts hält sie ihre Beobachtungen in einem Notizheft fest. Diese Auflösung der bisher für sie gewohnten Struktur hat auch Folgen für das Leben mit ihrem Partner Thomas, mit dem Anne seit zwanzig Jahren schon in einer gemeinsamen Wohnung lebt. Über diese lange Zeit sind zu einem Paar zusammengewachsen, das viele gemeinsame Erinnerungen teilt und den anderen perfekt zu lesen weiß.
Doch mit Annes Verwandlung werden sie sich immer fremder. Das was Anne schon seit einiger Zeit vermutet, dass Thomas eine Affäre hat, wird für sie nun zur Gewissheit. Ihre Wahrnehmung verändert sich mit jedem Tag mehr, für den Leser eine ebenso interessante wie irritierende Wendung. Immer mehr (ver)führt Laura Freudenthaler ihre Leser hinein in eine verfremdete Welt voller Spiegelungen und doppelten Bedeutungen, eine Wahrnehmungswelt von Anne, in der ihre Wirklichkeit und ihre Phantasie (oder soll man es anders nennen?) mehr und mehr sich vermischen. Zwischendrin taucht das Mädchen, mit dem Thomas sie angeblich betrügt, wie ein Geist auf, Anne hört Geräusche und nimmt Dinge wahr, die sie (und auch der Leser) nicht mehr eindeutig zuordnen kann.
Eine fragile Welt ist das, in der sich Freudenthalers Protagonistin da zunehmend bewegt. Die Grenzen von Wirklichkeit und Traum, das was Realität ist und was Einbildung, verschwimmen auch für den irritierten Leser, dem zwischendurch immer erschreckender deutlicher wird und werden soll, wie zerbrechlich und knapp von einer fürchterlich Grenze entfernt sein eigenes Leben und seine eigene Existenz verläuft. Das Lesen dieses Buches ist eine fast körperliche und auf jeden Fall seelische Grenzerfahrung.
Wer hätte eine solche Entfremdung, wie sie Anne erlebt, nicht schon einmal selbst erfahren, oder hat zumindest Angst davor?
Laura Freudenthaler, Geistergeschichte, Droschl 2019, ISBN 978-3-99059-025-6
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2019-05-29)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.