Charles Frazier ist nicht zuletzt durch die Verfilmung seines 1997 erschienenen ersten Romans „Unterwegs nach Cold Mountain“ einer großen Öffentlichkeit bekannt geworden. Sein zweiter Roman blieb relativ unbeachtet bei uns. Doch nun ist bei Zsolnay in Wien sein dritter Roman unter dem Titel „Ins Dunkel hinein“ erschienen, der sowohl in seiner Handlung als auch in seiner sprachlichen Qualität mit dem Debüterfolg konkurrieren kann.
Der Roman spielt in den sechziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts im ländlichen North Carolina, der Heimat von Charles Frazier, wo er auch die beiden ersten Bücher ansiedelte. Dort lebt die Protagonistin des Romans, Luce, als eine Art Hausmeisterin in einem langsam verfallenden Sommerhaus einer wohlhabenden Familie. Sie ist mit ihrem Leben abseits der Zivilisation recht zufrieden, als eines Tages ein Sozialarbeiter an der Tür klopft, an seiner Seite zwei Kinder.
Die beiden Zwillinge Frank und Dolores haben niemanden mehr außer ihrer Tante Luce, nachdem ihre Mutter in Gegenwart der Kinder von ihrem brutalen Lebensgefährten ermordet wurde.
Obwohl sie die beiden Kinder nicht liebt, übernimmt Luce sofort die Verantwortung für die beiden völlig traumatisierten Zwillinge, zu denen sie nach einiger Zeit mit viel Geduld und phantasievollen Einfällen auch langsam durchdringt.
In diesem Kampf um die Seelen der Kinder sieht sich Luce mit zwei Männern konfrontiert, die ihre Ruhe und Einsamkeit bedrohen. Da ist zum einen der Mörder ihrer Schwester, der, aus dem Gefängnis entlassen, sich auf die Suche nach den Kindern macht, weil er sie als Zeugen beseitigen, und zuvor etwas von ihnen über den Verbleib der Beute eines Raubüberfalls zu erfahren hofft.
Und da ist der junge Stubblefield, der eines Tages in seinen Heimatort zurückkommt, und in Luce die Frau wiedererkennt, in die er als Teenager verliebt war.
Sämtliche Personen in Fraziers Roman sind ihrer Persönlichkeit auf die eine oder andere Weise beschädigt, können sich im normalen Alltagsleben wenig bis gar nicht zurechtfinden. Und doch lässt Frazier ihre Panzer aufbrechen, lässt sie sich langsam öffnen durch einen Prozess, der faszinierend ist. Denn aus der zunächst bloßen Fürsorge für andere wächst so etwas wie echte Liebe, die auch schwerste Vergangenheit zu heilen in der Lage ist.
Charles Frazier ist ein begnadeter Erzähler, der mit einer leichten, reichen Sprache Landschaften und Figuren erschafft, die das Herz des Lesers tief berühren. Ich bin kein Fachmann für Filme: aber dieses Roman hätte eine cineastische Umsetzung verdient.
Charles Frazier, Ins Dunkel hinein, Zsolnay 2014, ISBN 978-3-552-05691-6
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2015-04-29)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.