„I am alone now. I am beyond recrimintions/Curtains are shut. Furniture has gone./I am transforming. I am vibrating/I am an embryo eating dark oxygen/I am glowing. I am flying. Look at me, now…“, singt Nick Cave in einem seiner neuen Songs mit dem Titel „Jubilee Street“ und es hat den Anschein als würde die ganze Dokumentation auf genau diesen Moment zusteuern, wenn in einer Art kosmischem Orgasmus die Live-Performance dieses Songs im Hier und Jetzt mit Bildern aus vergangenen Live-Auftritten Nick Cave’s montiert wird. Das in der Filmsprache oft zitierte „Moment der letzten Spannung“ - in der die Handlung durch die Peripetie nochmals herumgerissen wird und ein neuer Ausweg aus dem Dilemma noch möglich scheint, bevor sich die Handlung schließlich in die tatsächliche Folge ergibt wie eine berauschende Welle des Meeres umschlägt und noch einmal meterhoch anschwillt - wird in dem Biopic „20.000 days on Earth“ von Iain Forsyth und Jane Pollard geradezu zu einem physisch fühlbaren Live-Bild-Orgasmus perfektioniert. Dabei ist es nur der Höhepunkt eines einzigen Tages. Des 20.000 Tages im Leben von Nicholas Edward Cave, geborener Australier, Musiker, Schriftsteller, Poet und kein Höhlenbewohner.
„Can you feel my heart beat?
Eine besonders witzige Idee des Films lässt Nick Cave gegenüber seinem Psychiater Dinge aus seiner Vergangenheit und seiner Arbeitsweise erzählen, etwa wie er eine Zeile an die andere fügt und plötzlich eine Strophe zu einem Lied in Händen hält, das er dann mit seiner Band im Proberaum gleich ausprobiert. Neben rehearseals, also Probeaufnahmen mit der Band, sind aber auch viele Live-Auftritte der Band zu sehen, wovon der oben angesprochene sicherlich der mitreißendste aber nicht unbedingt der Beste ist. Auch der Performance von „Higgs Boson Blues“ wird eine besondere Note verliehen, wenn Nick Cave bei der Textzeile „Can you feel my heart beat“ die Hand eines Fans im Publikum einfach kurzerhand an sein Herz führt und trotzdem ungeachtet dessen ohne ein Zittern in der Stimme cool weitersingt. Dem (weiblichen) Fan wird dabei allerdings sehr wohl der Herzschlag bis zum Hals geschlagen haben, schließlich passierte das alles auch noch live vor laufender Kamera inmitten von mehreren Tausenden anderer Fans.
Die Filmemacher
Die beiden Filmemacher waren durch das Hörbuch zu Cave’s zweitem Roman in Kontakt mit Warren Ellis gekommen. Die Soundtracks (Lawless, The Road, The Assasination of…, etc) die Cave und Ellis zusammen geschrieben hatten, waren ihnen natürlich schon bekannt, sie seien immer sehr düster und würden dir den Magen umdrehen, so Jane Pollard und keinesfalls gefällig und beschönigend. Nachdem sie von Ellis Soundcollagen ausgeborgt hatten, war die Connection da und sie schrieben ein storyboard, das Nick Cave sehr gut gefiel. Seine Erinnerung sei eigentlich sehr schlecht, meint Nick Cave, und gerade durch das Wiedererzählen von Dingen würde sie reaktiviert, so betrachte er auch das Songwriting als notwendigen Prozess Erinnerungen neu zu durchleben, um diese zu festigen. Seine Songs würden diese Memories neu definieren und sie ihn neu durchleben lassen. Auch wenn er einräumt, dass Film natürlich immer eine Fiktion sei, selbst oder gerade wenn es sich um einen Dokumentarfilm handelt, würden große Wahrheiten durch ihn verkündet werden, speziell auch deswegen weil sich Forsyth und Pollard einer speziellen Interviewtechnik bedient hätten, meint Cave.
“In the end: memories, that’s what we are“
Die unvorhersehbaren Fragen – etwa zu ihm vorgelegten Fotos aus seiner Vergangenheit – hätten natürlich alle das Potential gehabt, ihn zu Tränen zu rühren, weil gerade unerwartete Erinnerungen genau diese Kapazität hätten, so Cave. Nick Cave hat großen Respekt für Filmemacher deren Filme nicht bearbeitet (tapped) würden und in denen die Vision der Regisseure durchbreche. Besonders beachtenswert sind auch die Szenen in denen Nick Cave in seinem Archiv über einen Live-Auftritt der Birthday Party memoriert, in dem Tracy Pew einen Fan anpisste, aber erst nachdem er mit Bier beworfen worden war. Berührend ist wenn er über seine Berliner Zeit spricht in der er in einer Art Schuhschachtel lebte und begann Dinge zu sammeln, die nur von seinem Nachbarn noch übertroffen wurden, der in seiner ebenfalls kleinen Wohnung eine ganze Weihnachtskugelausstellung zum Erleuchten brachte.
Nick Cave unmasked
Das interessante an der Zusammenarbeit mit Nick Cave sei auch die Tatsache gewesen, dass er eben keine Maske trage und kein Schauspieler sei, sondern einfach sich selbst darstelle, ganz anders als so viele Männer seiner Branche. Eine Biopic habe ja immer den Anspruch einem Star die Maske herunterzureißen, aber eine solche gebe es bei Nick Cave einfach nicht, denn er sei ganz einfach der Mensch, den er kreiert habe, meint jedenfalls Iain Forsyth. „You cannot make an ordinary film about an extraordinary person“, sagt Jane Pollard nicht ganz ohne Koketterie über ihren Film, den sie mit Iain Forsyth gemeinsam gedreht hat. Als gemeinsames Vorbild fürs Filmemachen nennt letzterer „O Lucky Man“ von Lindsay Anderson und als solcher verlässt man auch den Film „20.000 days“. „We wanted to make you feel how he made as feel“, sagt Jane Pollard im Interview und tatsächlich verlässt man den Film mit dem Gefühl, dass alles möglich ist, man muss eben nur endlich damit anfangen.
In Interviews in denen Nick Cave u.a. in seinem Jaguar den Taxifahrer für Kylie Minogue, Blixa Bargeld, Ray Winstone, Warren Ellis und Darian Leader macht, erfährt man weitere interessante aufschlussreiche Details über Nick Cave und seine Vergangenheit und vor allem natürlich über seine Beziehungen zu den einzelnen Personen. Die Sonderausgabe mit Bonus DVD enthält u.a. auch 20.000 Days on Earth Bonus Szenen, Interviews zum Film (Spastische Schwänze, Andere Welten, über Blixa Jubilee Street auf Violine, im Studio Hintergrund Vocals, Stranger Than Kindness im Proberaum), The Making of Push the Sky away, das fffizielle Musikvideo Higgs Boson Blues und drei Live Tracks von Love Letter, The Mercy Seat, Where The Wild Roses. Nicht nur für Nick Cave Fans, sondern auch für Liebhaber des gehobenen Dokumentarfilms ein absolutes Muss.
Iain Forsyth/Jane Pollard
20.000 days on Earth
Rapid Eye Movies, 94 min, DVD
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2015-04-15)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.