Der Autor von „Kapitalistischer Realismus ohne Alternative“ und Journalist für Sight&Sound, the Wire, Guardian, Film Quarterly und frieze sowie Lehrende an der UoL schreibt in der erstmals hier auf Deutsch vorliegenden Artikelsammlung nicht nur über den Verlust der Zeit unter den Bedingungen digitaler Erinnerung, sondern auch über den von Raum, nämlich über die non-lieux der Flughäfen, Tankstellen und Einkaufszentren, den Transitzonen des Spätkapitalismus, denen wir alle ausgeliefert sind ob wir wollen oder nicht. Das Leben im Cafè Nirgendwo gehe zwar weiter, aber die Zeit sei irgendwie zum Stillstand gekommen, so Fisher, der im 21. Jahrhundert vor allem einen „die Zeit suspendierenden Stillstand und eine Unbeweglichkeit“ verortet.
Retrospektion und Pastiche
„Das allmähliche Aufkündigen der Zukunft ist von einer Deflation der Erwartungen begleitet“, und das Gefühl zu spät dran zu sein, „den Goldrausch verpasst zu haben“ allgemein und omnipräsentverbreitet. „1981 schienen die sechziger Jahre weit ferner als heute. Seither ist in der Kultur die Zeit kollabiert, und lineare Entwicklung wich einer merkwürdigen Simultanität“. Seltsamerweise führte der Aufstieg des postfordistischen, neoliberalen Kapitalismus nämlich zu einer „durch Retrospektion und Pastiche geprägten Kultur“, so Fisher. Die Zerstörung von Solidarität und Sicherheit verursache im Spätkapitalismus nämlich eine Sehnsucht nach Gängigem und Vertrautem, also den diversen Dekaden des Konsums, den Sechzigern, Siebzigern usw., die einem so etwas wie Geborgenheit zumindest anböten. Die Intensivierung und Prekarisierung von Arbeit versetze die Menschen dabei in einen „Zustand ständiger Erschöpfung bei gleichzeitger Reizüberflutung“. Burn-Out als Tempomacher einer oszilliernden Kultur der Hypertonie. Viagra als kulturelles, nicht organischesDefizit.
Ein Gespenst geht um…
Das Gespenst im Marxens „Manifest“ greift Marc Fisher auf, um eine Theorie der Hauntology zu entwerfen, die einerseits an Ontologie (philosophisches Seinslehre) erinnert, andererseits aber auch das Spuken (hanter/hantise) miteinschließe. „The Time is out of joint“ hieß es bei Shakespeare, heute spreche man vielmehr als von einem Nicht-mehrvon einem Noch-nicht, denn es müsse daran erinnert werden, dass die revolutionären Bewegungen der Vergangenheit den Wohlfahrtsstaat vielmehr als historischen Kompromiss akzeptierten, eigentlich aber vielmehr gefordert hatten. Gerade in Zeiten der allmählichen Konstruktion des Wohlfahrtsstaates erscheint diese Geschichtslektion unabdinglich und insofern sei auch Marxens „Gespenst“, nämlich der Kommunismus, der umgehe in Europa, kein totes Phantom, denn als solches kann es gar nicht sterben, sondern ist gerade durch sein Kommen und Wiederkommen charakterisiert. „Wir sollten vielleicht erinnern“, schreibt Fisher, „dass der Sozialstaat nur im Rückblick als eine abgeschlossene Totalität erscheint; zu seiner Zeit hingegen war er ein Kompromiss, und die Linke sah in ihm bestenfalls einen provisorischen Brückenkopf für weitere Erfolge.“
Marc Fisher entwickelt im Anschluss an seine theoretische Abhandlung ein lebendiges Bild einer akzellerierenden Kultur, „entfesselt und verstärkt durch Jouissance, die sich der antizipierten Zerstörung aller gegenwärtigen Gewissheit speist“, so bezeichnet er zumindest das Phänomen „Jungle“. Weitere fesselnde Ausführungen zu der Achtziger Band Japan, Goldie, Tricky, Joy Division, Jimmy Saville, Burial oder Shining folgen und lassen eine Vergangenheit aufleben, die gleichzeitig eine Zukunft vorwegnimmt, die uns so gar nichts mehrzu bieten hat.
Mark Fisher
Gespenster meines Lebens.
Depression, Hauntology und die verlorene Zukunft.
Aus dem Englischen von Thomas Atzert.
Critica Diabolis 223
Edition Tiamat
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2015-11-02)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.