Fichtes bei weitem erfolgreichstes Buch war sein Roman „Die Palette“, erstmals erschienen 1968. Was zunächst nur das Denkmal für eine schon 1966 geschlossene Szenekneipe in der Hamburger Neustadt zu sein scheint, erweist sich im Lauf der Lektüre als etwas vielfach darüber Hinausreichendes. Das Buch verkörpert unter anderem den Typ des modernen Großstadtromans. Hamburg hat es mit ihm, reichlich spät zwar, doch immerhin, in die Liga der Städte geschafft, von denen bereits literarische Röntgenbilder angefertigt waren: Joyce’ Dublin, Svevos Triest, Dos Passos’ New York, Döblins Berlin, Celas Madrid.
Am Anfang steht Jäcki, Alter Ego von Fichte, Ende 1962 auf dem Hamburger Gänsemarkt und macht sich auf, erstmals in die „Palette“ hinabzusteigen, die er danach jahrelang regelmäßig besuchen und immer genauer kennenlernen wird. Dieser Beginn auf einem unbelebt scheinenden Platz in einer scheinbar wenig spektakulären Stadtgegend, das ist vergleichbar dem Anschauen einer alten Schwarzweißfotografie: Gänsemarkt und ABC-Straße als altertümliche Vedute oder wie ein Stadtmodell im Museum für Hamburgische Geschichte oder wie das Schauspielhaus unmittelbar vor dem Vorstellungsbeginn – das Bühnenbild komplett vorhanden, doch die Schauspieler haben es noch nicht betreten.
Dann setzt eine fast 350 Seiten andauernde Prozession ein: Kellner und Schauspieler, Freaks vieler Spielarten, Gammler, Hippies und ihre Mädchen, Strichjungen und Freier. Sie alle werden wie in einem rasanten modernen Ballett vorgeführt, mit immer neuen Einsätzen, neuen Begegnungen, überraschenden, oft irrwitzigen Aktionen. Fichte schafft so ein immer dichteres Netz von Beziehungen zwischen ihnen sowie zwischen ihnen und Jäcki, der eine Art Forschungsreisender zu sein scheint. Jäcki beobachtet intensiv, redet mit allen, macht Interviews mit ihnen und zieht mit ihnen durch die Stadt oder deren Umgebung. Neben den zumeist fragmentarischen, gelegentlich auch bohrend intensiven Dialogen tritt die Wiedergabe von Gerüchen und Geräuschen, von Fakten, Dokumenten und Zitaten und vor allem immer wieder von Assoziationen. Die reale Stadt Hamburg und die reale Palette erhalten fortwährend Jäckis sehr zum Spielerischen neigendes Bewusstsein von ihnen an die Seite gestellt. Jäcki bezieht darüber hinaus Figuren ein, die entweder das Souterrainlokal nur einmal betreten, wie Liana Pozzi alias Witwe Jahnn, oder gar nicht dort verkehren, wie die Fotografin Irma, Jäckis Lebensgefährtin, oder seine Hamburger Verwandten.
Die Handlungssplitter erstrecken sich allmählich auf eine Vielzahl weiterer Orte quer durch Europa, von Portugal über Paris bis zu den Schauplätzen des noch keine Generation zurückliegenden Weltkriegs. Ist es nicht zu viel an Material, das hier ausgebreitet wird? Dieser Eindruck kommt dank der von Fichte angewandten Technik des permanenten Überblendens, Überlagerns und Alles-mit-allem-in-Verbindung-Setzens nie auf. Man kann das mit Jackson Pollocks Dripping vergleichen. Nichts wirkt hier konstruiert, am Schreibtisch ausgedacht, sorgfältig auf Wirkung berechnet; dafür durchgehend der Eindruck von sehr spontan Geschaffenem, einer kreativen Spontaneität, die ihrer Mittel, vielleicht nur halb bewusst, sehr sicher war – und dabei kann es sich durchaus anders verhalten haben: Fichte hat mehrere Jahre an diesem Buch geschrieben. Das Ergebnis ist ein Stadt-, Zeit- und Gesellschaftsbild von großer Farbigkeit und Lebendigkeit – und es hat sich bis heute jugendfrisch erhalten.
Ich blättere im Roman und will mir sozusagen malerische Höhepunkte in diesem Rausch aus Farben und Formen vergegenwärtigen. Vielleicht das: die Episoden um Reimar Renaissancefürstchen, die Legende von der guten Blume zu Saaron, oder, fast am Schluss, Heidis Wehen in der Wilfredo-Bar … Man muss das gelesen haben. Und dann wird einem neben dem Eindruck großartiger Vitalität zugleich vieles unklar geblieben sein. Das Buch ist so voll mit nicht leicht durchschaubaren Bezügen und Anspielungen, mit speziellem Wortschatz, mit übermütigen Sprachexperimenten … Bis heute ist es eine Blütenwiese für bienenfleißige Literaturwissenschaftler geblieben. Fichtes Nachwirkung ist charakterisiert von anhaltendem Interesse der Fachwelt bei noch deutlich steigerungsfähigem des großen Lesepublikums. Um es mit Tucholsky zu sagen: ein Jahrhundertkerl (nur zu wenig gelesen).
[*] Diese Rezension schrieb: Arno Abendschön (2012-04-25)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.