Elena Ferrante, Frau im Dunkeln, Suhrkamp 2019, ISBN 978-3-518-42870-2
Nach dem großen Erfolg der „Neapolitanischen Saga“ veröffentlicht der Suhrkamp Verlag nun auch die früheren Romane der von Anfang unter dem Alias Elena Ferrante schreibenden italienischen Schriftstellerin.
Ihr 2006 in Italien erschienener Roman „La figlia obscura“ wurde schon 2007 unter dem Titel „Frau im Dunkel“ von DVA einem deutschen Publikum vorgestellt, mit wenig Resonanz. Dies wird nun nach der Saga anders sein, wenn Suhrkamp nach „Lästige Liebe“ auch „Frau im Dunkeln“ präsentiert.
Wieder erzählt eine Frau im mittleren Alter aus ihrem Leben. Leda ist 49 Jahre alt, ist geschieden und unterrichtet Englisch an der Universität in Florenz. Ihre schon erwachsenen Töchter leben seit etlicher Zeit beim Vater in Kanada, wo er seit langem arbeitet und lebt.
Schon kurz nachdem sie zum Vater und zum Studieren nach Kanada gingen und sich von der Mutter trennten, spürte diese nicht die erwartete Sehnsucht nach ihren Töchtern, sondern hauptsächlich und vor allem große Erleichterung, etwas Schweres endlich losgeworden zu sein.
Die ich-erzählende Leda verbringt ihre Sommerferien in einem süditalienischen Küstenort und freut sich auf Sonne, Meer und viel Erholung mit ihren Büchern.
Doch schon bald macht sich am Strand ganz in ihrer Nähe eine aus Neapel (!) stammende Großfamilie breit, mit all den Geräuschen und dem Lärm, den das mit sich bringt. Teil dieser Großfamilie sind eine junge Mutter und deren kleine Tochter. Tagelang nun wird Leda tagsüber am Strand diese beiden beobachten und sich ihre Gedanken dazu machen. Zunächst sind diese wohlwollend, stellenweise sogar fasziniert von der innigen Beziehung zwischen Mutter und Tochter, etwas was Leda, sich immer wieder an ihre Vergangenheit erinnernd, so nicht kannte in ihrer Kindheit und dann in ihrem eigenen Mutterdasein. Nach einigen Tagen jedoch spürt sie, wie ihre Stimmung umschlägt, wie sich eine Mischung aus Neid, Zorn und Enttäuschung Bahn bricht und einem unverständlichen Impuls folgend tut Leda dem kleinen Mädchen und mit ihm der ganzen Familie etwas an. Unbegreiflich für sie selbst und erst recht den Leser, wächst sich ein zunächst wie eine Lappalie aussehender Vorgang zu einer regelrechten Katastrophe aus.
Wie ist es dazu gekommen? Die schöne junge Mutter Nina ist für Leda ein Sinnbild für ihre eigene, nie erlebte Mutter. Und deren kleine Tochter Elena, die Nina über alles liebt, ist quasi Ledas Alter Ego. Und die Puppe Elenas, die Leda verschwinden lässt und Tochter und Mutter damit unendlichen Kummer zufügt, ist sozusagen das entscheidende Bindeglied.
Elena Ferrante spielt in ihrem neuen Roman mit dem aus der Psychologie bekannten mehrgenerationalen Konflikt. Überzeugend zeigt sie am Beispiel Ledas, wie negative Verhaltensmuster aus der Vergangenheit sich zwanghaft wiederholen können und dabei das eigene Glücksempfinden verhindern und Beziehungen zerstören.
Zirkulär erzählend, den Anfang des Buches als Fortsetzung des Endes beschreibend, lässt Elena Ferrante mit einer unglaublichen emotionalen Kraft ihre Protagonistin die Erlebnisse ihrer Vergangenheit berichten, die die junge Mutter und ihre Tochter in ihr auslösen. Es ist nicht leicht für sie, wie sie am Anfang sagt: „Die Dinge, die wir selbst nicht verstehen, sind am schwierigsten zu erzählen.“
Und was zu Beginn ihres Urlaubs voller Zuversicht begonnen hat, endet dramatisch: Elena Ferrante beschreibt Leda, die doch so vernünftige scheinende intellektuelle Frau, als eine psychisch zutiefst gestörte Persönlichkeit.
Der bewegende, ja erschütternde Roman stellt ohne Rücksichtnahme die Frage, was es eigentlich bedeutet, eine Frau und Mutter zu sein. Mit großer Ehrlichkeit geht Ferrante in die Tiefe und ergründet die widersprüchlichen Gefühle, die eine Mutter an ihre Kinder binden können.
Von Leda und ihre literarischen Schöpferin unkommentiert, denkt der Leser/die Leserin lange über den letzten Satz des Buches nach, als Leda sagt: „Ich bin tot, aber es geht mir gut.“
Ein eindringlicher Roman und eine nachdenkliche Parabel über das Leben moderner Frauen.
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2019-02-25)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.