Falladas im Jahr 1938 bei Rowohlt erschienener Familienroman zeigt den Autor nach seinen großen Erfolgen "Bauern, Bonzen und Bomben", "Kleiner Mann - was nun?" und anderen einmal mehr als souveränen Epiker, der es auf den 749 niemals langweiligen Seiten der aktuellen Aufbau-Taschenbuchausgabe versteht, dem Leser Berliner Milieu- und Zeitschilderungen detailgenau und überaus anschaulich zu vermitteln. Die Hauptfigur geht zurück auf den Droschenkutscher Gustav Herrmann, der im Jahre 1928 mit Pferd und Wagen eine spektakuläre Fahrt von Berlin nach Paris und zurück unternommen hatte, um auf den Niedergang des Droschkengewerbes aufmerksam zu machen. Bei Fallada heißt der Protagonist Gustav Hackendahl, ist 1914 zu Beginn der Geschichte ein wohlhabender und strenger Mann mit militärischer Vergangenheit, der seine Frau, seine fünf Kinder und seine Lohnkutscher samt dreißig Pferden mit eiserner Hand regiert. Mit dem 1. Weltkrieg beginnt der stetige Niedergang der Familie, sowohl in wirtschaftlicher wie auch in sozialer Hinsicht, der sich in der Zeit der Inflation und vor dem Hintergrund gesellschaftlicher Konflikte in der Weimarer Republik fortsetzt. Der Auslöser des Unheils ist aber der alte Hackendahl selbst, dessen tyrannische Härte das Schicksal seiner Kinder maßgeblich mitbeeinflusst: der vom Vater für weich und schwach gehaltene Sohn Otto fällt an der Westfront, dessen vom Vater bevorzugter Bruder Erich entwickelt sich zum gewissenlosen Finanzbetrüger, die Tochter Sophie wird zur kalt berechnenden alten Jungfer, deren Schwester Eva zur hörigen Sklavin eines Berliner Ganoven und Zuhälters. Einzig der jüngste Sohn Heinz hat bis zum Ende der Handlung noch Kontakt zu dem knorrigen Patriarchen, gerät jedoch wie so viele seiner Zeitgenossen in die unheilvolle Spirale der Dauerarbeitslosigkeit. Gustav Hackendahl selbst, der zusätzlich zu seiner fortschreitenden persönlichen Verarmung all diese Schläge mit stoischem Gleichmut zu verdauen scheint, gesteht sich bis zum Schluss nicht wirklich ein, seiner Familie gegenüber versagt zu haben, verschanzt sich hinter seinem selbstgeschaffenen Nimbus der Unbeugsamkeit und einem für immer überlebten Preußentum. So wirkt denn ausgerechnet der Schluss des Buches, eben die berühmte Fahrt nach Paris, auf der ihm alle zujubeln, ein bisschen wie eine freundliche Reminiszenz an die Wertvorstellungen der Kaiserzeit, und das ist schade. Fallada jedoch deshalb eine einseitig verklärende Sichtweise der alten Ordnung zu unterstellen, wäre schon aus autobiografischen Gründen verfehlt, hatte doch der Autor selbst ein offenbar tief gestörtes Verhältnis zum eigenen Vater, landete wegen Betrügereien, die seine Drogensucht finanzieren sollten, zeitweilig gar im Gefängnis und litt zeitlebens unter psychischen Problemen. Das noch heute Beeindruckende an Falladas Roman "Der eiserne Gustav" ist zum einen die Analogie des erzählten Familiengeschehens zur geschichtlichen Entwicklung des deutschen Volkes in jenen Jahren, zum anderen die literarische Aufarbeitung fataler Abhängigkeitsverhältnisse zu Menschen, Drogen und falschen Götzen: Erichs beginnender Größenwahn aufgrund seines zeitweiligen Erfolges als Schieber und Finanzhai, die fast schon absurde Unterwürfigkeit Evas gegenüber ihrem Peiniger Eugen und die blinde Verliebtheit des blutjungen Heinz in die leichtlebige und raffiniert-herrschsüchtige Tinette sind allesamt an- und aufrührend ausgeführte Schilderungen von Schwäche, von unzügelbarem Suchtverhalten.. Die Darstellung des Lebensweges der Hackendahlschen Kinder, hinter dem die Haupthandlung um den alten Droschkenkutscher mitunter ganz zurücktritt, ist ungemein plastisch und unlarmoyant, der Leser erhält am Beispiel der Protagonisten einen detailreichen Einblick in die Berliner Lebensverhältnisse vor, während und nach dem 1. Weltkrieg. An Lokalkolorit spart der Autor nicht, der berlinische Dialekt ist kennzeichnend für die Dialoge (der alte Hackendahl pflegt ihn mit fortschreitendem sozialen Abstieg immer intensiver) und sorgt humorvoll und respektlos für eine mildere Rezeption der Figur des eisernen Gustav durch den Leser. Trotz seines Starrsinns und seiner uneingestandenen Fehler legt der Mann eine gewisse Lebensweisheit und Zähigkeit an den Tag, die auch dem härtesten Kritiker patriarchalischer Selbstherrlichkeit widerwilligen Respekt abringt. Dadurch, dass sich dieser Effekt einstellt, ist Falladas Roman trotz drastischer Darstellung dessen, was falsche Erziehung anrichten kann, leider keine eindeutige Abrechnung mit dem wilhelminischen Zeitgeist. Diese Thematik genießt seit dem Erscheinen des Kinofilmes "Das weiße Band", der sich ihrer auf sehr viel subtilere Art und Weise nähert, gerade wieder hohe Aktualität. Auch einen aus heutiger Sicht zumindest nachvollziehbaren geistigen Brückenschlag zum aufziehenden Unheil des Nationalsozialismus mit seiner noch extremeren Erziehungstheorie und -praxis sucht man vergeblich - wenn man ihn denn überhaupt sucht und das Buch nicht einfach als gut geschriebenen, spannenden Unterhaltungsroman einer ungemein interessanten Epoche lesen möchte.
[*] Diese Rezension schrieb: Marcus Neuert (2010-04-02)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.