Das Buch bildet das Romandebüt der Autorin. Wie sie selbst sagt, ist es aus einer ihrer Kurzgeschichten heraus entstanden, die sie wieder aufgenommen, umgearbeitet und erweitert hat. Durchaus in weiten Teilen gelungen ausgearbeitet hat, das sei vorweg erwähnt.
Die Geschichte um Marie, die als einzige noch genügend Interesse anscheinend an ihrem gerade verstorbenen Großvater Benjamin aufbringt, um sich um seine sterblichen Überreste zu kümmern. Jener Großvater, der immer voller Geschichten war, zuletzt in Caracas lebte und von dem alle in der Familie behaupten, er sei ein Verbrecher gewesen. Wie eben alle Männer Verbrecher sind, so zumindest die feste Meinung einiger weiblicher Teile der Familie.
Warum aber und in welcher Form genau, darüber deutet man höchstens an.
Grund genug für Marie, sich auf die Lebensspuren dieses Mannes zu setzen. Spuren, die auch für sie selbst die eigene Vergangenheit und die der eigenen Familie aufklären sollen. Und sie wird durchaus fündig auf ihrer Suche, die sie nach New York führen wird. Ein durchaus beschwerlicher Weg auch in die eigene Person hinein, wie schon der Einstieg in das Buch aufzeigt. Denn Marie ist beileibe keine stabile, gesicherte Person. Nein, eine stark spürbare Form der inneren Leere treibt sie um, die durchaus damit zusammenhängen kann, dass in ihrer Familie so einiges unter den Teppich gekehrt wurde und nicht bestens verlaufen ist. Könnte es gar sei, dass ihr Großvater durchaus bessere Wege gegangen ist, als er all dies hinter sich ließ mitsamt seiner Frau und damals das Weite suchte?
Eine Haltung, die übrigens in ihrer Familie so fremd nun gar nicht ist, denn auch Maries Eltern haben sich zu Zeiten getrennt, aus guten Gründen, wie man erfahren wird.
So nimmt Marie die Spurensuche der Wege ihres Großvaters nicht nur aus Neugier, sondern auch als eine selbst Getriebene auf Spürbar wird auf den Seiten deutlich, dass der Großvater fast so etwas wie die einzig feste innere Bezugsperson Maries gewesen ist, der auf seinen wenigen Besuchen in der alten Heimat immer Zeit mit ihr verbrachte. Der Marie seinen „Komplizen“ nannte und sie mit einbezog in mancherlei Verwicklungen des familiären Lebens. Ein Schlitzohr, das ist jener Großvater viel eher als der „Verbrecher“, als den er dargestellt wird.
Solide und sachlich erzählt, mit manch charmanten Wendungen und interessanten Begegnungen ist dies allerdings auch eine der Schwächen des Buches. Denn viel mehr als eine gewisse charmante Schlitzohrigkeit des Großvaters wird sich am Ende nicht herausstellen nach all den Andeutungen und Anwürfen der Familie. So groß sind die vermeintlichen Verbrechen und Geheimnisse de Großvaters wahrlich nicht, um hier einen wirklichen Spannungsbogen aufrecht erhalten zu können. Groß aber ist die innere Beziehung Maries zum Großvater und das ist das eigentliche Thema des Buches.
„Nimm dir alles, was Du willst und lass Dir nichts erzählen“, darin letztendlich kulminiert das Erbe, dass Benjamin seiner Enkelin Marie hinterlässt. Das Eigentliche, was hinter all den wahren und unwahren Geschichten steckt, ist die mögliche Nähe zwischen Menschen hinter all den Geschichten. Eine Nähe, die der Großvater mit seinen wenigen Anwesenheiten klarer im Leben Maries hinterlassen hat, als all die Menschen, die ständig um sie herum waren und die sie in der Gegenwart im Rahmen allenfalls flüchtiger Begegnungen trifft. Ob es Marie gelingen wird, sich das ihre zu nehmen, das bleibt offen. Und ob sie dafür nicht auch all die Geschichten braucht, dass ebenfalls.
Stringent und fließend erzählt Katharina Eyssen von der inneren Suche nach dem, was wirklich bleibt hinter allen Geschichten und Übertreibungen. Wobei die eigentliche und vordergründige Geschichte des nur vermeintlich geheimnisvollen Großvaters nicht wirklich viel austrägt. So werden einige Erwartungen, die der Beginn des Buches aufbaut, nicht wirklich erfüllt, trotz der durchaus anregenden Darstellung und sprachlichen Gestaltung.
[*] Diese Rezension schrieb: Michael Lehmann-Pape (2011-03-18)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.