Muss man wissen, was oder wo Wolhynien ist? Nicht unbedingt auf Anhieb, aber man kann diesen ukrainischen Landstrich vermittels der Bewohner des Dorfes Janowka und in der Lebensgeschichte der von dort stammenden Familie Exner über drei Generationen hinweg in diesem Buch in bester Weise kennen lernen. Und natürlich noch einiges darüber hinaus.
1904 beginnt die erzählte Geschichte der Familie Exner. Seit den 1860er Jahren waren viele Deutsche nach Wolhynien gekommen und hatten diesen Landstrich zu einer blühenden Landschaft geformt. Doch die Zeiten werden härter, die politischen Ressentiments drängender, der erste Weltkrieg bricht aus, Männer werden eingezogen und sterben, Vieh und Feldfrüchte requiriert, das Leben in Janowka erlebt bedrängende Härten und schließlich werden die heimattreu gebliebenen Russlanddeutschen Wolhyniens nach Sibirien verschleppt.
Gut, dass die Frauen einander beistehen und die Familie durch alle Härten, Grausamkeiten und Verluste beieinander halten und beschützen. Starke Frauen.
Wie sagt es Karl, der ebenfalls früh sterbende Mann Christines, der Urgroßmutter des Autors?
"Ich bin der Herr im Haus! Was meine Frau sagt, wird getan"!
Christine und ihre Töchter Serafine, Mathilde und Martha nehmen den Kampf des Lebens auf. Überstehen die Grausamkeiten Sibiriens, erleben, dass die alte Heimat nicht mehr als wirkliche Heimat taugt und gehen hinaus in die Welt. Wege trennen sich, Kanada und Deutschland werden zu neuen Heimaten für Teile der Familie.
Und dennoch bleiben Verbindungen. Nicht nur, indem an den jeweiligen Orten die Frauen die Familie zusammenhalten und die Prägungen weiter tragen, auch innere, genetische, charakterliche Gemeinsamkeiten verbinden die Nachkommen der Familie Exner ganz unabhängig von den Lebensorten.
Davon erzählt die zweite Geschichte, die Geschichte aus der Gegenwart heraus, in der Helmut Exner die oft verblüffenden gemeinsamen Linien, Vorlieben, manchmal sogar gemeinsamen Talente der Familienmitglieder schildert, die er auf seiner Suche nach seiner Familiengeschichte in der Gegenwart antrifft.
In dieser, seiner eigenen, Familiengeschichte nimmt Helmut Exner ein Thema von durchaus allgemeinem Interesse und von erkennbarer Wichtigkeit auf. "Woher komme ich"? "Warum bin ich, wie ich bin"? "Was hat mich geprägt, ohne dass es mir wirklich bewusst ist"?
Fragen, die gerade in unserer Zeit, in der lineare Lebensentwürfe kaum mehr möglich sind und in der sich damit die Frage nach der "Heimat" ganz anders und neu stellt, wichtig sind. Heimat erschöpft sich letztlich nicht in einem bestimmten äußeren Ort, Heimat ist auch ein "innerer Ort". Helmut Exner wendet sich diesem Thema zwar in sehr persönlicher Weise zu (es ist seine Familie), durchaus aber mit allgemeinem Gewinn bei der Lektüre.
Wie seine vier "starken" Ahninnen ihre Familie durch die Zeiten begleiten und formen, das ist durchaus Teil nicht nur dieser einen Familiengeschichte.
Zudem ist das Buch, einfach gesagt, gut geschrieben.
Der Alltag gerade zu Beginn des 20. Jh. tritt lebendig in den Raum, die Zeitgeschichte wird aus Sicht des einfachen Menschen fassbar beschrieben. Die Protagonisten kommen in der Schilderung ihres Alltages und ihrer persönlichen Lebens- und Leidensgeschichte nahe, ohne, dass es langatmig oder langweilig wirkt.
Was an Grausamkeiten möglich ist, weiß natürlich jeder aus den Nachrichten, es kommt aber noch einmal in ganz anderer Weise in den Schilderungen aus Sibirien nahe. Da überlegt man sich demnächst zweimal, ob das eigene Klagen über das ein oder andere Luxusproblem nicht ein wenig vermessen ist.
Die Bedeutung von Beharrlichkeit und Stärke auch angesichts massiver Härten und im Erleben von Schicksalsschlägen lässt ahnen, warum die diese Generation, die zwei Kriege überstehen musste, in der Lage war, eine immense Aufbauarbeit zu leisten, von der wir weltweit heute noch zehren. Eindringlich treten jene notwendigen Tugenden in den Raum, die es braucht, um letztlich zu jeder Zeit sein Leben zu gestalten und Aufgaben anzugehen.
Zu guter Letzt ist es eine bedeutsame Frage, wo eigentlich die eigenen Wurzeln liegen. Was einen, nicht nur genetisch, geprägt hat und mit welchen Menschen Verbindungen bestehen, die uns im Alltag oft gar nicht bewusst sind.
Um sich selbst zu verstehen, muss man wissen, woher man kommt, denn niemand von uns steht als Fixstern alleine im Raum, wir alle haben eine weit in die Vergangenheit hinein reichende Geschichte, die uns zu dem macht, was wir sind.
Gut, dass Helmut Exner seine Familiengeschichte mit all den Verbindungen bis heute in dieser umfassenden Form aufgeschrieben hat.
Fazit:
Was verbindet Menschen einer gemeinsamen Herkunft über die Generationen hinweg wirklich? Mehr, als wir Nomaden des modernen Lebens im Allgemeinen meinen! Das Buch bietet einen Anstoß, auch die eigene Familiengeschichte genauer zu betrachten und sich selbst darin zu finden. Ebenso bietet es die Möglichkeit, von einer vergangenen Zeit lebendig zu hören und für die Gestaltung der eigenen Gegenwart daraus zu lernen.
[*] Diese Rezension schrieb: Michael Lehmann-Pape (2010-05-08)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.