„Das Gehirn sendet ein Signal aus, dass es stirbt. Das depressive Gehirn sendet also dieses Signal aus, und der Körper empfängt es, und nach einer Weile meint der Körper, er stürbe ebenfalls. Und dann beginnt er herunterzufahren. Deshalb tut eine Depression weh.“ So beschreibt Leonard seiner Geliebten und späteren Ehefrau Madelaine seine eigene Verfassung, den Zustand in dem er sich seit seiner Kindheit befindet, zwischen Manie und Depression. Wer bis dato geglaubt hat, eine Depression bedeute nur „deprimiert zu sein“, wird sich nach Jeffrey Eugenides` „Liebeshandlung“ eines Besseren belehrt wissen. Denn die Liebesgeschichte, der marriage plot , zwischen Madelaine und Leonard wirft ein helles Scheinwerferlicht auf eine bisher immer noch völlig unterschätzte Krankheit, die der Literaturwissenschaftler und Princeton-Professor in liebevoll pedantischer und akribischer Kleinarbeit hier beschreibt. Selbst als Leser fühlt man sich sichtlich befreit, als der leidige Leonard endlich selbst eine Lösung für seine Krankheit findet, denn jemanden zu lieben, bedeutet nicht zuletzt auch, sich für des anderen Glück zu opfern, und zwar so, dass dieser es einmal wirklich , besser haben wird: nämlich „ohne mich“.
Erleuchtung entspringt…
Auch Mitchell, der andere, der Madelaine verehrt, dürfte sich dieser grenzwertigen aber nachvollziehbaren Logik verschrieben haben, denn nach seinem Collegeabschluss flüchtet er - nicht zuletzt wegen seiner zu großen Liebe zu Madelaine - nach Indien. Eigentlich steht sein religiöses Interesse vordergründig im Mittelpunkt, doch als sein Reisebegleiter Larry bei ihrer ersten Zwischenstation in Paris seine Freundin Claire trifft und Mitchell sich unweigerlich die Frage stellt, wo denn nun er in der Ein-Bett-Zimmer-Wohnung schlafen soll, wird durch seine beherzte erweiterte Flucht in eine nahe gelegene überteuerte Pariser Absteige zumindest diesen beiden eine lange Liebesnacht beschert, wie sie sich Mitchell mit seiner Madelaine schon seit Jahren vorgestellt hat. Der nächste Tag bringt allerdings auch hier mehr Klarheit. Denn als Mitchell seinen Freund am nächsten Tag zum vereinbarten gemeinsamen Mittagessen abholt, sitzt dieser auf den Stufen vordergründig vor Claires Wohnung: mitsamt seinem Rucksack. Der gemeinsamen Reise nach Indien steht also nichts mehr im Wege, wäre da nicht… aber das steht dann woanders.
…aus dem Auslöschen…
„Es war, als ackerte man den späten James oder die Seiten über Landreform in Anna Karenina durch, bis man plötzlich wieder an eine gute Stelle kam, die besser und besser wurde, und man in solche Begeisterung verfiel, dass man fast dankbar war für das vergangene langweilige Stück, weil es das spätere Vergnügen steigerte.“ Beschreibt der Herr Literaturprofessor Eugenides hier seine eigenen Lese- oder seine eigenen Schreiberfahrungen? Mitnichten! Eugenides` Schreibstil, der sich trotz der 620 Seiten, durchwegs kohärent liest, erzählt ein Ereignis zuerst, um es dann aus der Perspektive der einzelnen Protagonisten noch einmal zu wiederholen. So erlebt der Leser eine Sache quasi mehrmals und dennoch wird ihr die Spannung nicht geraubt, obwohl der Ausgang ja schon bekannt ist. Wenn Eugenides also dem Plot vorgreift, erzeugt dies erst recht eine Spannung, da man ja wissen möchte, wie der andere Protagonist dieselbe Sache erlebt hat oder schildert. So wachsen einem mit der Zeit nicht nur die Protagonisten, sondern auch der Plot selbst ans Herz - was angesichts der tristen Ausgangslage anfangs gar nicht so einfach erscheint. Denn irgendwann stellt sich ja schließlich in jeder Beziehung einmal die K-Frage und dies liest sich bei Eugenides so wie andere Episoden des Liebeslebens der beiden Protagonisten durchaus amüsant, um nicht zu sagen pikant. Für Lachen wird also durchaus gesorgt!
…des Begehrens
Der Roman, der in den Achtzigern spielt, wirft Fragen auf, die sich wohl viele Teenager nach der Schule stellen müssen: „Wie soll es weitergehen? Was soll ich aus meinem Leben machen? Wofür lohnt es sich zu kämpfen?“ Madelaine, die sich dafür entscheidet, ihr Leben einem anderen, Leonard, zu opfern ist mit ihrer vermeintlichen Selbstlosigkeit vielleicht ebenso egoistisch, wie Mitchell auf seinem religiösen Trip der Selbstfindung auf seiner langen Reise nach Indien zu Mutter Teresa. Am Ende müssen aber beide klein bei geben, denn ein Verrückter erteilt ihnen eine Lektion: „In einer Krise ist es nämlich leichter, als Einzelzelle zu überleben.“ Dass diese – Leonards - Weisheit auf jahrelangen Labor-Untersuchungen von Hefezellen beruht, braucht nicht unbedingt erwähnt zu werden, aber beweist doch, dass das Sein eben doch das Bewusstsein schafft und jeder und jede in gewissem Maße auch nur Opfer seiner jeweiligen Umstände ist. Aber man kann ja etwas dagegen tun. Das zeigt am Ende der „Liebeshandlung“ auch Mitchell.
Ein manisch-depressiver Roman…
Eugenides` durchaus unterhaltsamer Liebesroman knüpft vielleicht nicht nahtlos an seinen „Middlesex“-Erfolg - der ihm immerhin den Pullitzerpreis einbrachte - an, zeigt aber doch, dass der Literatur-Professor auch einmal jung war und in einer Zeit aufgewachsen ist, in der es noch Telefone und Schreibmaschinen gab und auch die Ehe noch ein Sakrament war, die Romanseiten zu einem glücklichen Ende führen konnten. Es gelingt ihm, Literatur zu schreiben, während er über Literatur schreibt, denn sein Roman ist voller Anspielungen auf Nietzsche, Barthes, Derrida oder Eco und die College-StudentInnen in seinem Roman haben auf ihren nächtlichen Streifzügen durch die Bars ihres Viertels vielleicht ein LitKrit-Theorie-Buch zu viel eingesteckt,. Von plattitüden Metaphern wie „Leonards Augen hatten etwas Leeres. Es war, wie in einen tiefen, trockenen Brunnen zu schauen.“ oder selbstreferentielle Anspielungen wie die „Madeline“-Geschichte in der „Madelaine“-Geschichte einmal abgesehen, lesen sich doch viele der Lebensweisheiten, die Eugenides in den Mund seiner Protagonisten legt, als durchwegs ausgegoren: „Egal wie sehr wir versuchen, gut zu sein, wir sind nicht gut genug.“ Manische Depression wird in der Lesart von Eugenides` Figur Leonard - in seiner manischen Phase - bald zu einer selektierten Eigenschaft: „Der Vorteil war die Energie, die Kreativität, das Gefühl von annähernder Genialität“. In seiner depressiven Phase liest sich das Bild dann allerdings anders: zwei eingeschlagene Schneidezähne, blau verkrustete und rot geschwollene Gesichtshälfte, künstliche Beatmung, Intensivstation. Leonard war von einem Balkon gesprungen. Ein gelungeneres Bild für das Dilemma in dem sich Leonard befindet, wäre wohl auch ihm selbst nicht eingefallen. Doch er kennt den Weg raus.
…mit Liebeshandlung
Am deutlichsten wird die Funktion der Liebeshandlung aber Mitchell, wenn ihm nach dem verbrachten Liebesglück einer Sommernacht plötzlich klar wird, dass er nur Madelaine`s „Überlebensset“ war. „Er sah Madelaine an. Vielleicht war sie gar nicht so besonders. Sie war sein Ideal, aber ein früher Entwurf davon, und mit der Zeit würde er darüber hinwegkommen. Sprach`s und beendete damit wohl für endgültig den marriage plot . Schließlich hatte er Madelaine auf ihre erste Ablehnung hin, schon während des College die hämische Frage gestellt: „Aber wer sagt dir eigentlich, du hättest mich je geistig angezogen?“ Keine Liebe hat je in die Ehe geführt und keine Ehe ins Glück. Jedenfalls nicht im Roman.
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2011-12-27)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.