„Wir alle sind wie betrunken, nur jeder auf seine Art, der eine hat mehr getrunken, der andre weniger. Und auf jeden wirkt es anders: der eine lacht dieser Welt ins Gesicht, der andre weint an der Brust dieser Welt. (…) Ich, der ich so vieles gekostet habe in dieser Welt, dass ich mich in Menge und Reihenfolge verliere. – ich bin der Nüchternste auf dieser Welt; auf mich wirkt einfach nichts…“, klagt der Protagonist in Erofeevs Poem in 170-seitiger Romanform. Nicht weniger Seiten Anmerkungen braucht es, um all die Anspielungen, die in diesem scheinbaren Verlierergedicht voller Beschimpfungen anklingen, auch nur zu erwähnen, geschweige denn zu erklären, denn Erofeev, der 1990 in Moskau starb, war nicht nur ein gebildeter, sondern auch – wie Peter Urban im Nachwort anklingen lässt - ein „besessener Leser“, der wunderbar schreiben konnte. Seine Sprache ist einerseits vulgär, andererseits voller Anspielungen auf Literatur Geschichte Russlands und der Welt.
Mit Kater in die Krise
Als das Buch 1973 über Israel in den literarischen Untergrund der Sowjet kam und dort fanatisch weitergereicht wurde, avancierte es bald zum Kultbuch einer ganzen Generation, die ihre verlorenen Hoffnungen endliche artikuliert und in Alkohol ertränkt fand. Denn die Sowjet hatte vielen jungen Menschen das gestohlen, was im Westen gerne als Selbstverwirklichung dargestellt wird. Erofeev war erst 32 Jahre alt, als er die Reise von Moskau nach Petuski schrieb und an deren Ziel er nie angelangen sollte. Wie schreibt Peter Urban so schön: „Dabei verschränkt Erofeev durchaus provokant die Geschichte vom Untergang eines `homme révolté´, die Geschichte vom eigenen Untergang mit der Passionsgeschichte Christi und lässt keinen Zweifel an der Deckungsgleichheit seiner eigenen Visionen mit der Offenbarung des Johannes.“ Aber es lässt auch keine Zweifel daran, dass Erofeev nicht nur seinen Meister und Margarita gelesen hat, sondern sich auch in der russischen und Weltliteratur bestens auskennt.
Stoßgebete an die Ladenhüter
„O Vergänglichkeit! O kraftloseste und schändlichste Zeit im Leben meines Volkes – die Zeit vom Morgengrauen bis zum Öffnen der Geschäfte!“ Ausgesprochen von einem Alkoholiker ist dieses in eine Anflehung gebettete Gebet, das sich im Verlauf des Romans wiederholt, blanker Zynismus auf die leeren Geschäfte der Planwirtschaft, in der es außer Vodka ohnehin nichts anderes zu kaufen gegeben hätte, selbst wenn die Geschäfte Tag und Nacht offen gehalten hätten. „Das Volk kann sich kein Rindfleisch leisten, und Vodka ist billiger als Rindfleisch, und deshalb trinkt der russische Bauer, wegen seiner Armut trinkt er! Ein Buch kann er sich nicht leisten, weil es auf dem Bazar weder Gogol noch Belinskij gibt, sondern nichts als Vodka, auf Staatsmonopol, zum Verzehr im Wirtshaus und über die Straße! Deswegen trinkt er, in seiner Unwissenheit trinkt er!“, zitiert Erofeev Dmitrij Pisarev. War gar die Revolution von 1991 auf die Reduzierung des Vodkakonsums unter Gorbatschow zurückzuführen? Aber haben die Russen wegen des Verbots denn weniger getrunken? Erofeev wüsste bestimmt eine Antwort, wenn er nicht vorher gestorben wäre.
Der Schluckauf steht über jedem Gesetz
„Ich habe von Anfang an gesagt, dass die Revolution nur dann etwas Nützliches erreiche, wenn sie in den Herzen geschieht und nicht auf öffentlichen Plätzen.“, intoniert er an der Stelle seines Romanhelden und selbst die im Roman beschriebene Revolution ist eine Persiflage auf die Oktoberrevolution und voller sarkastischer Anspielungen auf Lenin. „In der Welt der propagandistischen Fiktionen und der Reklame-Parolen – woher so viel Selbstzufriedenheit?“ klagt er seine Mitbürger verzweifelt an und holt aus, zu einem Rundumschlag gegen Frankreich, Goethe und den Rest der Welt. Was hat Kant mit Schluckauf zu tun? „Fjur zich“ oder „an zich“? „Das Gesetz steht über uns allen. Der Schluckauf – über jedem Gesetz.“ Wie drückt man die Phasen zwischen Betrunkensein und Kater am besten aus? Richtig, auf einer x und einer y-Achse! Was haben die Bezeichnungen „Balsam von Kanaan“, „Der Geist von Genf“ oder „Träne der Komsomolzin“, „Hundekaldaune“ und „Kuss von Tante Klara“ gemeinsam? Richtig! Allesamt sind Cocktails deren einzelne Zutaten Erofeev dem Leser bereitwillig aufzählt. Wer die Listen gelesen hat, der weiß was Kommunismus wirklich bedeutete. Aber alle ehrenwerten Männer Russlands hätten getrunken, wenn auch vielleicht nicht so viel. Aber in jedem Fall nicht nur die, auch Schiller und Goethe hätten gerne einen sitzen gehabt, ganz besonders beim Schreiben.
„Es ist eher so: jeder Kommentar zu diesem Text – Ein Ritt über den Bodensee“, meint auch Peter Urban. Man muss den Text einfach selbst gelesen haben. Er strotzt vor Bildung, Anspielungen, Energie, Aufsässigkeit, Zynismus und Humor. Ein wahrer Abgesang, eine Hymne auf das Leben!
Venedikt Erofeev
MOSKAU - PETUŠKI
Ein Poem.
Aus dem Russischen von Peter Urban
Auch als Hörbuch mit Frank Goosen, Heinz Marecek und Harry Rowohlt
erhältlich
Coverbild: Bernd Pfarr
ISBN: 978-3-0369-1169-4
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2012-11-07)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.