Schon in "Rückkehr nach Reims" (ebenfalls bei Suhrkamp) hatte Erbin die Homophobie und den "volkstümlichen Alltagsrassismus" seines Herkunftsmilieus, seine eigenen Erfahrungen als Homosexueller mit Stigmatisierung und Gewalt thematisiert und beleuchtete den politischen Rechtsruck einer einst kommunistischen Arbeiterklasse am Beispiel seines verstorbenen Vaters. In "Eine Arbeiterin" geht es um seine Mutter und ihr Sterben in einem französischen Altersheim. Aber es wäre kein Eribon, wenn er nicht auch einen Haufen soziologisches Theoriematerial - quasi gratis - mitliefern würde.
Alles wird gut
Seine drei Brüder und er bekommen die Aufgabe gestellt ihre Mutter in ein Heim bringen zu müssen. Anders als die Heime zuvor wird dieses Pflegeheim in Fismes ihr letztes sein. Didier hatte sich vorgenommen regelmäßig nach Fismes zu fahren, denn er wollte ein guter Sohn sein und sich um seine Mutter kümmern. Vielleicht auch um etwas nachzuholen, was ihm jahrelang misslungen war. Was seine Brüder und ihn noch verband? "Rein gar nichts. Außer der Tatsache, dass wir hier waren, um uns um unsere Mutter zu kümmern, dass wir hier sein mussten." Seine Beziehung zu seiner Mutter ist nicht unbedingt von Liebe oder Wärme gekennzeichnet, denn er hält sie für eine Rassistin. Als schwuler Mann weiß er was Diskriminierung bedeutet und kann nicht verstehen, warum seine Mutter auf Schwarze schimpft, wo sie doch selbst die Tochter eines Gitano ist. Er findet auch keine anerkennenden Worte für sie, obwohl sie trotz des tobsüchtigen Ehemanns ihr Leben lang bei ihm blieb. Aber immerhin sieht er ihre Ohnmachtserfahrung als Phänomen ihrer Klasse und nicht als individuelles. Er selbst hat sich aus seiner Schicht in das bürgerliche Milieu der Großstadt emporgearbeitet und sieht mit etwas Verachtung auf seine Herkunft herab. Anstelle seiner eigenen Trauer lässt er einen Chanson von Jean Ferrat für sich sprechen: "Tu verras, tu seras bien!". Du wirst sehen, alles wird gut.
Mors certa, hora incerta
Mit Büchern von Simone de Beauvoir, Bohumil Hrabal, Solschenizyn, Brecht und Norbert Elias bewaffnet tritt er die Reisen nach Fismes an. Das rituelle Drama der wechselseitigen Täuschung (the ritual drama of mutual pretense) trägt er bei seinen Begegnungen mit seiner Mutter im Kopf, aber natürlich auch Sartre und die anderen. Im letzten Kapitel stellt er Foucaults Buch über den Wahnsinn neben Beauvoirs Buch über das Alter: die Archäologie des Schweigens gelte ebenso für ersteres als auch letzteres Thema. So frappierend sei die Ausgrenzung einer noch viel größeren Gruppe als jener Foucaults, denn letztere bestehe schlussendlich aus uns allen. Aber wer wird für uns, die bald Alten, dann einmal die Stimme erheben? Ein kollektives "Wir" unter dem sich die Alten versammeln wird es anders als bei anderen gesellschaftlichen Gruppen nie geben können. Was sich da abspiele, sei "die Beziehung einer Kultur zu genau dem, was sie ausschließt", zu dem was sie als ihr Außen konstituiert, wie er in Anlehnung an Foucault formuliert. "On en a harre", sei vielleicht die einzige Losung gewesen auf die sich auch ihre Mutter mit anderen Angehörigen ihrer gesellschaftlichen Gruppe (die Alten) einigen hätte können: "Wir" haben die Schnauze voll. Solange es also keine politische Organisierung gäbe, ohne Theorie-Effekt (Bourdieu) blieben die Alten bei der Politik, die stets die performative Produktion des Realen sei, auf der Strecke. In diesem Sinne kann man Eribons Buch auch als einen Anstoß verstehen.
Didier Eribon
Eine Arbeiterin
Leben, Alter und Sterben
Aus dem Französischen von Sonja Finck
2024, fester Einband mit Schutzumschlag, 272 Seiten
ISBN: 978-3-518-43175-7
Suhrkamp Verlag
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2024-05-07)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.