Der vorliegende Roman des jungen Niederländers Stephan Enter ist der erste von ihm, der ins Deutsche übersetzt wurde. Seine beiden ersten Bücher wurden in Holland von der Kritik sehr positiv aufgenommen und er gilt als einer der hoffnungsvollsten jungen niederländischen Autoren der Gegenwart.
Der Roman besteht aus zwei Hauptteilen, wobei ich vermute, dass der zweite Teil mit dem Titel "Scrabble", der auch den Buchtitel "Spiel" inspirierte, von Enter zuerst geschrieben wurde. Darin beschreibt der mittlerweile 19 Jahre alt gewordene Norbert, am Grab seiner Großmutter stehend, seine Erinnerungen an die Jahre mit ihr. Seit Norbert 10 Jahre alt war, hat ihn die Großmutter in jedem Sommer mit dem Zug mit in die Schweiz genommen, wo er in ihrem Haus in den Bergen wunderschöne Urlaube mit vielen Wanderungen verbringt, die er sein Leben lang nicht vergessen wird. Über die ganze Zeit spielt die Großmutter immer wieder mit Norbert Scrabble. Sie nimmt ihn ernst dabei, spielt ehrgeizig und über lange Jahre ist ihr Punktevorsprung am Ende des Spiels groß. Doch irgendwann schmilzt er zusammen und als Norbert dann zum ersten Mal gegen sie gewinnt, spürt er, dass er erwachsen geworden ist. Da ist auch dann die Zeit reif, dass die Großmutter ihr großes Geheimnis lüftet, das sich um Norberts Großvater rankt.
Norbert ist fasziniert von der Welt und der Sprache, in der die Großmutter lebt: "Als ich etwa zwölf war, wurde mir klar, dass dieser widerborstige, unmoderne Jargon meiner Großmutter mehr war als nur eine Eigentümlichkeit. Er war der Schlüssel zu ihrer Welt. Und weil ich mir keine Welt vorstellen konnte, zu der ich lieber gehörte, begann ich, mir ihre Sprache anzueignen."
Diese gemeinsamen Sommerurlaube stehen in scharfem Kontrast zu dem Leben davor und danach. Diese Erfahrungen Norberts werden in wechselnden Erzählperspektiven auf den ersten 180 Seiten des Buches erzählt. Es beginnt mit den Erfahrungen einer Jungenclique in der Grundschule, zu der Norbert gehört, einer Zeit, in der die sozialen Unterschiede zwischen den Buben sich noch nicht bemerkbar machen. Sie leben in ihrer Indianerwelt und erkunden ihre Umgebung. Dann erfolgt nicht nur der Wechsel Norberts ins Gymnasium, sondern mit der Pubertät erschließt sich für ihn noch eine weitere Welt. Die Welt der Bücher, die Annäherung an das andere Geschlecht, die Auseinandersetzung mit der streng calvinistisch-protestantischen Religion, der er in Pfarrer Overduijn begegnet und von der er sich aufrecht und mutig distanziert.
Von der Großmutter ist in diesem Teil des Buches nur selten die Rede und die Urlaube werden gar nicht erwähnt, sodass am Ende der Eindruck eines fast geteilten Jugendlebens entsteht. Doch es wird auch deutlich, dass Norbert ohne die Erfahrungen und die Prägungen durch die von seiner Mutter übrigens gemiedene Großmutter niemals so aufrecht und gut durch seine Pubertät gekommen wäre.
Ohne die Großmutter wäre er ein anderer Mensch geworden und dies wird ihm von ihr bleiben ein Leben lang. Als er im letzten Absatz des Buches am Grab der Großmutter steht, "wie ich mich räuspere und anfange, etwas Persönliches über meine Großmutter zu sagen," da wird er in meiner Phantasie genau das beschreiben.
Mit einer sehr einfühlsamen und poetischen Sprache voller Kraft, die zeigt, wie sehr der Autor seine eigene Jugend reflektiert hat, beschreibt Enter eine Etappe eines Lebens von großer Intensität.
Ich habe dieses Buch von der ersten Seite an geliebt; es hat mich an die eigene Kindheit und Jugend versetzt. Gerne würde ich mehr von diesem Autor kennen lernen. Gerade ist sein neues Buch „Im Griff“ erschienen.
Stephan Enter, Spiel, Berlin Verlag 2009, ISBN 978-3-8270-0812-1
[*] Diese Rezension schrieb: Winfried Stanzick (2013-03-18)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.