„Ich verstecke mich. Und schreibe. Ich kann nicht aufhören, auch jetzt nicht. Diese Stadt zwingt mich zum Schreiben, selbst wenn sie mich umbringen will“, hackt Spider Jerusalem in einem letzten Verzweiflungsakt auf einer Dixieklokabine in seinen Laptop. Seine Frau wurde entführt, seine Wohnung überfallen, seine Internetverbindung gesperrt, aber Spider schreibt weiter, denn der Verfasser der Word-Kolumne mit dem vielversprechenden Titel „Ich hasse diese Stadt“ und des Bestsellers „Schuss in die Fresse“, ebenfalls bei Readfeed, eine Tochter von SPKF, erschienen, kann gar nicht anders, als sein „Maschinengewehr“ zu füttern. Spider war bis vor kurzem noch in den Bergen, fünf zu kurze Jahre hatte er dort in Frieden und Eintracht mit sich selbst verbracht, die Haare bis in den Hintern wachsen lassend und Grashalme zählend, bis ihn sein Verleger anrief und ihm die beiden laut Vertrag ausstehenden Bücher in Erinnerung rief. Spider musste also wieder in die Stadt ziehen und nahm dort sein Journalistenhandwerk wieder auf, denn Royce spendierte ihm sogar ein Apartment und eine Sekretärin, die bei ihm eine Art Journalistenlehre absolvieren sollte.
Transientismus, Trapanation und Gonzo-Journalismus
Spider, der schon seit fünf Jahren keinen Sex mehr hatte, will von seiner Sekretärin Channon nichts wissen, nicht nur, weil sie einen Freund hat. Als sich dieser in einen Foglet (Dampfwesen) verwandeln lässt, ist sie so frustriert, dass sie freiwillig eine Braut Christi wird, allerdings von Fred Christ, einem Transienten. Das Zeichen dieser seltsamen Sekte ist ein dreiäugiger Smiley, denn sie fordern das Menschenrecht auf Artverwandlung, also das Austauschen des Körpers mit anderen Wesen: „Transientismus bedeutet das Recht, seine Art zu wechseln. Dem Wechsel der Art folgt ein Wechsel der Perspektive und auch ein Wechsel der Bedürfnisse. Die nackte Wahrheit ist, dass sich das Civic Center einen Dreck um unsere Bedürfnisse schert“, so Fred Christ in der ersten Episode von „Transmetropolitan“ als Begründung für ihre Autonomieerklärung und den Aufstand der Sekte. Doch bald gibt es ein Massaker, unschuldige Menschen und Transienten müssen sterben und der Premierminister selbst ist in die Machenschaften tief verwickelt. Spider Jerusalem deckt die Verbrechen der Stadt auf und serviert den Politikern ihre Lügen lauwarm, den Religionsfanatikern (Stichwort: Trepanation) sogar sehr heiß und so bekommen alle Machthaber dieser Welt einmal so gehörig ihr Fett ab. Und das noch dazu in einer Sprache und einem Umgangston, der sich gewaschen hat und sehr stark an Hunter S. Thompson, das enfant terrible des Gonzo-Journalismus, denken lässt, bei dem es eigentlich mehr um Literatur als um bloßen Journalismus geht.
Bakterieller Daten-Niederschlag?
„Wie wär’s mit einem Abendessen?“ frägt Spider Jerusalem eine gutaussehende Kollegin in einem Mexiko-Reservat der Zukunft. „Nein, bedaure“, antwortet diese schnell, „Ich bin verheiratet, nicht hungrig, mit sieben unbekannten Krankheiten infiziert, lesbisch, mit Eidechsen schwanger und klinisch tot“. Wer glaubt das seien alles nur faule Ausreden um nicht mit dem glatzköpfigen Irren mit den dicken Eiern schlafen zu müssen, irrt. „Transmetropolitan“ spielt in einer nicht mehr allzu fernen Zukunft in der es vor Überraschungen nur so wimmelt. Zweiköpfige kettenrauchende Katzen (Kinky Friedman Hommage?), bakterieller Daten-Niederschlag, eine terroristische Organisation, die versucht den Vorrang des französischen in Frankreich zu bewahren… all das sind nur einige wenige der tausenden skurrilen Einfälle, die Warren Ellis zur Charakterisierung seiner Science Fiction Graphic Novel hatte und sich mit Worten beschreiben lassen, denn man muss die Zeichnungen wirklich gesehen haben, so verrückt und abgefahren sind sie. Eine Zukunft, die nicht nur von den Medien beherrscht wird, sondern auch von diesen terrorisiert.
Fear and Loathin in the Future Zone
Spider Jerusalem stellt allerdings eine sehr viel coolere Reinkarnation des besten amerikanischen Journalisten seit Pulitzer (der in Österreich-Ungarn geboren wurde) als Johnny Depp in der Verfilmung von Thompson’s Besteller „Fear and Loathin‘ in Las Vegas“ sich nur erträumen könnte. Trotz seines über und über tätowierten Körpers, seiner zweifärbigen Brille und der Glatze ist Spider nämlich allemal cooler, sogar noch im Frack, wenn seine Assistentin zu ihm sagt: „Spider, du siehst aus, als hätte einer `ne Fledermaus an deinen Hals genagelt“. Das Testament seiner Exfrau, die ihren Kopf einfrieren ließ, um in der Zukunft wieder aufgetaut und ein Revival zu werden, beinhaltete eigentlich nur einen Satz: Sie solle erst dann reanimiert werden, wenn es unumstößliche Beweise dafür gebe, dass Spider definitiv und unwiderruflich tot sei. An so einem Tag muss John F.K. ermordet worden sein, heißt es an einer Stelle und der stets grantige und keppelnde Spider hat auch schon mal jemanden verdroschen, wenn er schlechte Laune hat. Etwa einen Akkordeonspieler und eine Chorknaben, die „Oh Happy Day“ intonieren. Und Spider hat oft schlechte Laune, etwa in der Fortsetzungsgeschichte „Küsse aus der Tiefkühltruhe 1-3“, die sich auch in diesem Sammelband befindet. Ein herrliches Lesevergnügen für Erwachsene, das wieder einmal zeigt, dass Comics tatsächlich eine eigene Kunstform darstellen. Exzellent!
Warren Ellis/Darick Robertson
TRANSMETROPOLITAN 1: SCHÖNE NEUE WELT
292 Seiten www.paninicomics.de
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2013-05-21)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.