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Carmen Eller - Ein Jahr in Moskau
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Eller, Carmen:
Ein Jahr in Moskau

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(Bücher frei Haus)

Mit den gesammelten Werken von Dostojewski im Gepäck macht sich die zukünftige Redakteurin der Moskauer Deutschen Zeitung im goldenen September auf die Reise in die teuerste Stadt der Welt. Sie wird ein Jahr lang für die Lokalzeitung berichten und schon am Flughafen heißt es „Dobro poschwalowat w Moskwu“ für sie, denn einer ihrer WG-Genossen holt sie mit dem Auto persönlich von dort ab. Wer Moskau kennt, wird wissen, dass es sich dabei wirklich um einen Liebesdienst handelt, denn die Distanzen sind riesig, in dieser 12-Millionen-Stadt. Alexej, der dritte Mitbewohner und Ben, die Ratte, erwarten den Neuankömmling mit einer echten Borscht und noch in der ersten Nacht will Carmen das „Schneewittchen im gläsernen Sarg“ am Roten Platz sehen, doch zunächst bleibt ihr dieser nekrophile Anblick doch erspart. Stattdessen steht sie vor dem hell erleuchteten GUM, der strahlenden Basilika, dem Historischen Museum und natürlich auch dem Mausoleum, wo sich der schon seit fast 100 Jahren tote Staatsgründer aufgebahrt befindet.

Caran d’ache
Auch wenn sich die angehende Journalistin anfangs sehr an den russischen Eigenheiten stört, etwa den unangenehmen Gerüchen, dem Sozialdarwinismus in der Metro, den unfreundlichen Gesichtern, entwickelt sie dann doch sehr schnell ein delikat filigranes „l’hainamoureusement“ zu der Hauptstadt des russischen Reiches. Etwa zu den „karandasch“ Bleistiften und dem Schriftsteller Jurij Druschkow, der eine Pumuckl-ähnliche Figur gleichen Namens erfunden habe, die anstelle einer Nase einen dicken Bleistift im Gesicht trage. Dass „Karandasch“ aber eigentlich auf den Chaplin-ähnlichen Clown Michail Nikolajewitsch Rumjanzew zurückzuführen ist und eventuell etwas mit der schweizerischen Firma „Caran d’Ache“ zu tun haben könnte, entgeht der Autorin in der Flüchtigkeit ihrer Recherchen. (Karandasch bedeutet „schwarzer Stein“ und wurde von den Russen schon im 18. Jahrhundert benutzt, erst Emmanul Poirè brachte den Ausdruck dann 1924 ins Französische, indem er die Wörter trennte.) „Mich erschlug aber nicht nur die Größe der Stadt“, beklagt sie sich noch im Oktober, „Auch ihr Tempo. Ihre Dynamik. Ihre Atemlosigkeit. Der Planet Moskau schien sich schneller zu drehen als der Rest der mir bekannten Welt.“ Und tatsächlich ist Moskau eine andere Welt und noch dazu die Hauptstadt dieser anderen Welt, immer noch. Wer glaubt, man würde sich mit Englisch in dieser anderen Weltstadt durchschlagen können, der irrt. Denn die Sprache dieser Hauptstadt ist russisch und in ihrer Hemisphäre ist auch 21 Jahre nach dem Fall des Kommunismus immer noch Russisch die Weltsprache der östlichen Hemisphäre. Amerikaner sprechen ja auch keine Fremdsprachen, denn in der westlichen Hemisphäre spricht ja eh jeder die Sprache des Hegemons. Und das ist auch gut so. Gut?

“Wisamuschem?“
Die Stadt der Extreme hat tatsächlich vieles zu bieten, was es sonst nirgends gibt. So beschreibt die Autorin etwa die Millionärsmesse, die jedes Jahr im November in Moskau stattfindet, weil dort mehr „Dollarmillionäre“ leben würden, als irgendwo anders auf der Welt. Wer also moskowitische Sehenswürdigkeiten wie etwa das Sandunowskaja-Banja, das sich in einem andalusischen Alhambra-ähnlichen Palast 15 min vom Kreml befindet, sehen will, sollte das nötige Kleingeld eingesteckt haben, denn hier hat schon Tschechow gesessen und echte russische Kultur kostet eben genauso, wie echte andere Kultur. Ein paar Birkenzweigemassagen bei 80 Grad, später fühlt man sich dafür wie neugeboren und kommt wohlduftend auch an den berühmt-berüchtigten Deschurnajas vorbei, den Pförtnerinnen der Wohnhäuser in den riesigen überdimensionalen Wohnpalästen Moskaus, die alles wissen und einem auch alles besorgen können. „Wisamuschem?“ könnte eine der Anmachphrasen sein, die einen auf Moskaus Straßen erwarten, es bedeutet so viel wie „ohne Mann“, also etwa: „Ledig?“. In unseren Breiten wäre das dann doch eher dreist, vor allem wenn die Frage von einem Polizisten kommt, bei dem man gerade eine Diebstahlmeldung aufgeben möchte.

„Lubow, eto schloschnaja schtuka“
„Zögernd gestand ich mir ein, dass ich mich immer noch als Fremde fühlte. Moskau wirkte auf mich wie eine launische Gastgeberin. Mondän, mit wilder Vergangenheit und verletztem Stolz. Glamourös, kühl, und voller Widersprüche.“, schreibt die Autorin dann im Januar, aber eine Freundin gibt ihr den guten Rat, sich um Moskau zu bemühen, denn Moskau bemühe sich um niemanden. Man müsse die Stadt herausfordern und erobern. Durch ihre Arbeit für die „Moskauer Deutsche Zeitung“ hat die Autorin dann auch die Gelegenheit so illustre Menschen wie Wladimir Mirsojew zu interviewen, der in der besten Tradition des russischen magischen Realismus an Bulgakow und Gogol anknüpfe, aber eigentlich nur Kriminalgeschichten schreibt. „Lubow, eto schloschnaja schtuka“, Liebe ist eben eine schwierige Angelegenheit, egal ob es sich dabei um eine Person oder eine Stadt handelt, aber am besten ist es doch, wenn man beides verknüpfen kann. Und so weiht ausgerechnet ein Schweizer die Deutsche aus Bamberg in Moskau und weitere russische Geheimnisse ein. Denn zu Moskau gehört auch eine Reise für Verliebte nach St. Petersburg, wohin die beiden Turteltauben über die Feiertage ausfliegen. „Man muss das Leben nicht so darstellen, wie es ist, und nicht so, wie es sein soll, sondern, wie man es sich in seinen Träumen vorstellt“, so Tschechow in „Die Möwe“. Vielleicht sagt dieser Satz mehr über die russische Literatur aus als über die Russen, aber ein schöner Schlusssatz ist er allemal.

Carmen Eller
Ein Jahr in Moskau
Reise in den Alltag
HERDER Verlag

[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2012-11-03)

Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.


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