Es ging um ein paar, verwandtschaftlich verbundene, weiße Mittelschichtamerikaner in New York und der Bay Area. Alle haben oder hatten, mittelbar wenigstens, was mit Rockmusik am Hut. Nicht unbedingt als Gitarristen und Sänger, sondern auch als Sekretärin in der Plattenfirma, Musikproduzent, Presseagent oder Social-Network-Hype-Entfessler.
Wahrscheinlich darum hat der „Rolling Stone“ Egans Roman „ein großartiges Buch“ genannt. Vorn auf dem Umschlag steht noch, eigentliches Thema wäre „das Vergehen der Zeit“. Deswegen habe sie 2011 den Pulitzer-Preis gekriegt.
Familiengeschichten erzählen amerikanische Romane und Filme ja nonstop, doch die Egan entwickelt ihre zu Herzen gehenden Storys vom Leben und Fühlen moderner, aktiver Frauen her. Gut, auch nicht das Brandneueste, aber eben mit Rockmusik dabei! Eine kleptomanische Sekretärin im Büro des Plattenmoguls. Ein Teenagermädchen, das den Fehler ihres Lebens noch nicht durchschaut hat: sich mit einem über-vierzigjährigen (Kinder in ihrem Alter) verheirateten Mann einzulassen! Eine junge Amerikanerin, die während einer Weltreise in Neapel verloren geht, ihre Ziele, Antriebskräfte, Wertvorstellungen einbüßt, schon dabei ist, als Prostituierte zu arbeiten, sie nennt es nur anders und versucht es gut zu verstecken, als ihr Onkel aus Amerika auftaucht, sie zum Essen ausführt und ihr dabei klar wird, welchen Wunsch sie vor allem hat: zu Hause sein bei den Lieben.
Es mag zwar so klingen, aber Jennifer Egan ist keine Schmuseautorin für junge Frauen à la Nicholas Sparks, Trost und Romantik im Überfluss. Sie kann schon auch ein paar bitter-bissige Dinge über den Zeitgeist beitragen. Was damals, Ende der Siebziger, eine Bande von Nichtskönnern in San Francisco aus ihren dünnen Leibern geschrien hatte, als hingen Leben davon ab, ist - unter Mithilfe des Produzenten Bennie - zum Mist für Dummies verkommen. Mitte der zwanziger Jahre des 21. Jahrhunderts (Zukunft!) wird die kommerzialisierte Rockmusik aber doch noch gerettet, weil dann die „Patscher“ den Umsatz per Smartpads regulieren. Dabei handelt es sich um gerade erst geh- und sprechfähig gewordene Kleinkinder, die die heiße Scheiße runterladen wie süchtig.
Am Anfang des Buches betritt der längst vom Schlitten gerutschte ehemalige Punkmusiker Scotty das Büro des Popmusikmagnaten Bennie (aus Gesundheitsgründen rührt dieser zur Zeit Goldstaub in alles, was er zu sich nimmt), wirft ihm auf seinen Schreibtisch einen Fisch, den er aus dem ökologisch belasteten East River gezogen hat. Scotty brabbelt wenig Verständliches, haut wieder ab, hinterlässt die große Frage: „Wie ist alles so gekommen? Wie sind wir von Punkt A zu Punkt B gelangt?“
Was folgt, in weiteren zwölf Kapiteln (eines davon ist die Power-Point-Präsentation einer Zwölfjährigen, somit steht fest, dass das unselige Power Point sich in zehn Jahren noch immer gesteigerter Popularität erfreuen wird), sind ziemlich typische amerikanische Short Storys. Ms. Jennifer Egan hat als Creative-Writing-Dozentin gearbeitet, sie kennt die Gesetze. Man stelle sich das als „irgendwie so in der Art von“ (aber gewiss nicht besser als) Paul Auster, Richard Powers, Richard Ford, Annie Proulx, Jonathan Franzen, Jeffrey Eugenides, John Updike, Truman Capote, Carson McCullers, Thomas Wolfe vor.
(„Denk dir einen Charakter aus! Aber streng dich wirklich an, denk ihn dir ganz tief aus! Du musst jeden Zipfel seiner Seele kennen. Warum dieser Albtraum mit dem gekippten Dreirad? Wann ist die beste Stunde in seinem Leben gewesen? Wie und wann stirbt er? Wenn du das kennst, setz dich hin und schreib eine Story.“)
Denken wir uns eine Frau, die in Hollywood als PR-Agentin arbeitet. Sie ist Darling der Stars. Man muss auf ihre Partys, es wird erzählt werden, wer eingeladen war. Jetzt eine Katastrophe, die diese Karriere abbricht. Etwas Unerhörtes, was man nie gelesen hat! Bei einer Party sind so ölgefüllte Behälter oben an der Decke, die werden von Kerzen beleuchtet. Das Öl wird heiß, die Behälter schmelzen, heißes Öl spritzt auf die Stars. (Nein, komm, sag nicht Edgar Allan Poe!) Die Katastrophe wird zur Legende. Wer dazugehören will, malt sich Brandnarben auf. Aber ihre Karriere ist im Eimer.
Oder diese zwei Jungs. Der eine fühlt sich zu diesem einen sonderbaren Mädchen unerklärbar hingezogen, aber sinnlos, die schwärmt nämlich für seinen besten Freund. Dann ziehen die gemeinsam und voll zugedröhnt durch die Nacht und jetzt merkt der, in den das Mädchen verliebt ist, dass er in Wirklichkeit in ihn, seinen besten Freund, der in das Mädchen verliebt ist, verliebt ist. Aber bedrogt, wie sie sind, gehen die Jungs erst noch im Fluss schwimmen und da ist dann so eine Strömung, die reißt den schwul gewordenen Jungen in den Tod. Dieses alles, Kunst überhaupt, als Stream-of-Consciousness des Ertrinkenden.
Organisatorisch geht es nicht so wie im Leben und in den allermeisten Büchern zu, dass das Zweite hinter dem Ersten kommt und das Dritte nach dem Zweiten ... Vielmehr wird, was sich inhaltlich meist wie ein gängiger Unterhaltungsfilm liest, künstlerisch anspruchsvoller gereicht. Jennifer Egan springt eifrig herum in den fünfzig Jahre zwischen 1975 und 2025 (Zukunft!). Zu jedem der ausgesuchten Jahre gibt es eine „abgeschlossene“ Geschichte. Sie alle ergeben, wie man erst hinterher wirklich merkt, einen Roman.
Die eine Figur, die alles zusammenklammert gibt es auch; das ist Sascha, die Kleptomanin. In manchen Kapiteln ist sie kaum wahrnehmbar präsent, etwa, wenn ihr Name kurz erwähnt wird in einem Gespräch. Exklusiv der Roman von Sascha ist „Der größere Teil der Welt“ nicht. Es soll ein Ensemblefilm sein. Eine Epoche wird abgemalt. Natürlich, Jennifer Egan ist in dieser Realismustradition drin und weiß, dass man per exakt und kalkuliert eingefangener Atmo (Stichwort: Tom Wolfe) alles über-authentisch machen muss. Bigger than life. Am Übersetzerinnendeutsch (Heidi Zeltmann) trägt sie wahrscheinlich kaum eine Schuld.
Zitat:
Aber jetzt verspürte Alex, während sie einander von den schmalen, rechtwinklig zueinander stehenden Sofas aus ansahen, die in Sonnenlicht getaucht waren, das durch ein Oberlicht in Bennies Loft in Tribeca fiel, plötzlich die mitreißende Energie der Neugier des älteren Mannes.
Aber jetzt verspürte Alex, während sie einander von den schmalen, rechtwinklig zueinander stehenden Sofas aus ansahen, die in Sonnenlicht getaucht waren, das durch ein Oberlicht in Bennies Loft in Tribeca fiel, plötzlich die mitreißende Energie der Neugier des älteren Mannes.
Mich nervt die „Awareness“ politisch korrekter Yankees, die so einen Roman nicht ohne gesinnungsrichtige Dritte-Welt- und Neger-Einschübe ablaufen lassen können.
Zur Unperson geworden - wegen ihrer Öltropfen-Party - lässt die Agentin sich von einen afrikanischen General, Diktator, Völkermörder, anheuern, um dessen Medien-Image zu polieren. Dafür tut sich mit einer gleichfalls aus Promi-Zirkeln geschassten Schauspielerin, Typ Julia Roberts, zusammen, welche sich für die Illustrierten als Hollywoodgeliebte des schwarzen Babyfressers ablichten lassen wird. Und, weil der eigene Babysitter gerade belegt ist, nimmt die PR-Frau ihre zwei kleinen Mädchen mit auf den Flug ins Herz der Finsternis. Unverfroren fordert die Schauspielerin den Diktator mit der Frage heraus, ob man Lust gewinne, wenn man Kinder killen lasse. Gefährliche Frage. Schon muss ein alarmierter Haushofmeister die Presseagentin und ihre Töchter in allerletzter Sekunde zur Landepiste karren. Was aber wurde aus der Hollywood-Diva? Vergewaltigt, geschändet, gehäutet auf YouTube? Nein. Der General ist von ihrer Art charmiert und ladet sie ein, bei ihm wohnen zu bleiben. Die eingefädelte Geschichte wird wahrer, als sie geplant gewesen war. Unerschrockene US-Mütter und -Töchter, die bringen so was.
Zitat:
Während eines Besuchs in New York, als sie zum Spaß mit der Fähre nach Staten Island fuhren, weil sie das beide noch nie gemacht hatten, drehte sich Susan plötzlich zu ihm um und sagte: „Lass uns dafür sorgen, dass es immer so bleibt.“ Und ihre Gedanken waren in diesem Moment dermaßen miteinander verschlungen, dass Ted genau wusste, warum sie das gesagt hatte: Nicht weil sie sich an diesem Morgen geliebt oder weil sie zum Mittagessen eine Flasche Pouilly-Fuissé getrunken hatten - sondern weil sie das Vergehen der Zeit gespürt hatte. Und damals ging es Ted genauso, er merkte es am aufgewühlten braunen Wasser, an der Eile von Schiffen und Wind - Bewegung, Chaos überall -, und er nahm Susans Hand und sagte: „Immer. Es wird immer so bleiben.
Während eines Besuchs in New York, als sie zum Spaß mit der Fähre nach Staten Island fuhren, weil sie das beide noch nie gemacht hatten, drehte sich Susan plötzlich zu ihm um und sagte: „Lass uns dafür sorgen, dass es immer so bleibt.“ Und ihre Gedanken waren in diesem Moment dermaßen miteinander verschlungen, dass Ted genau wusste, warum sie das gesagt hatte: Nicht weil sie sich an diesem Morgen geliebt oder weil sie zum Mittagessen eine Flasche Pouilly-Fuissé getrunken hatten - sondern weil sie das Vergehen der Zeit gespürt hatte. Und damals ging es Ted genauso, er merkte es am aufgewühlten braunen Wasser, an der Eile von Schiffen und Wind - Bewegung, Chaos überall -, und er nahm Susans Hand und sagte: „Immer. Es wird immer so bleiben.
Zuletzt geht (fast) alles doch noch gut aus. Egans Roman endet mit einem triumphalen Benefizkonzert des reaktivierten Scotty, der von seinem Vorhaben, sich auf offener Bühne umzubringen, ablässt, dafür den „Patschern“ den Iggy Pop macht.
Zugegeben: Die Feuilletons aller deutscher Meinungsmacher, SZ, FAZ, Zeit, Spiegel, - unisono haben sie den „Größeren Teil der Welt“ „fabelhaft“, „wunderbar“, „großartig“ genannt, ein offenbar ultimatives Lese-Event. Patsch, patsch!
[*] Diese Rezension schrieb: KlausMattes (2015-06-22)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.