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Jean Echenoz - Ein Jahr
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Echenoz, Jean - Ein Jahr bestellen
Echenoz, Jean:
Ein Jahr

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(Bücher frei Haus)

Die Meisterschaft des französischen Romanciers Jean Echenoz, 1947 in Orange in Südfrankreich geboren, liegt darin, stark verknappte Romane zu schreiben, die sich elegant und leichthändig lesen. Mittlerweile hat er seine Methode auf reale Gestalten und Ereignisse aus der Vergangenheit übertragen, hat schmale Bücher um Maurice Ravel, den Ersten Weltkrieg, den Läufer Zátopek oder den Erfinder Nikola Tesla komponiert. Aber auch schon den gänzlich fiktiven Stoffen seiner zwischen den achtziger Jahren und der Jahrhundertwende erschienenen Kurzromane eignete dieser diskrete Zauber. Sie lesen sich wie unangestrengte, muntere Unterhaltungsgeschichten, müssen aber, wie man in der Rückschau merkt, streng durchdacht und erarbeitet gewesen sein.

Hier zum Beispiel, bei „Ein Jahr“, bekommen wir auf 85 - nicht eben klein und eng bedruckten - Seiten den Ablauf eines Jahres im Leben einer untergetauchten Frau erzählt. Andere hätten den Plot auf zweihundertfünfzig oder gar dreihundertzwanzig Seiten gestreckt - mit kaum mehr Leseabenteuer als Jean Echenoz.

Die Pariserin Victoire erwacht neben dem toten Körper ihres Freundes Félix und glaubt, man werde versuchen, ihr die Schuld am Todesfall zuzuschieben. Deswegen versorgt sie sich mit den wichtigsten Dingen, vor allem Geld, verschwindet in eine ferne Provinz Frankreichs, an die Südwestküste, ins Baskenland, später die Landes, wo sie ein Ferienhaus mietet. Bald taucht ein Pariser Bekannter auf, Louis-Philippe, der sie mit Informationen über den Stand der Ermittlungen versorgt, für eine Weile einzieht und auch mit ihr schläft.

Sie bemerkt, dass er sie beraubt hat, kann nicht zur Polizei, weil sie sich als Flüchtige wähnt. Schon jetzt fällt dem Leser auf, dass Victoire außer Louis-Philippe ja keine Verbindung zu ihrer Pariser Herkunft mehr hat. Was aber noch nicht enthüllt wird: Louis-Philippe kreuzt während der folgenden zwölf Monate noch mehrere Male ihren Weg, spielt seltsame Spiele mit ihr. Im Grunde ist das eine Geistergeschichte. Nicht Félix ist tot, Victoire nicht eines Totschlags oder einer Fahrlässigkeit schuldig, sondern tot ist dieser Louis-Philippe.

Doch darum geht es auch nicht wirklich. Vielmehr um die stoisch akzeptierte Rutschbahnfahrt, die Victoire durch mehrere Leben hindurch nun mitmacht. Sie befindet sich im Abstieg, wird dabei niemals als Leidende gezeigt. Eher ist sie ein weiblicher Hans im Glück. Was auch immer passiert, Victoire behält den Kopf oben.

Autostopp, Übernachtung im Freien, Bettelei, Ladendiebstähle, Prostitution, ein schräges Idyll mit zwei älteren Wilderern. Schlag auf Schlag geht das. Sie wird nie wird gefasst. Kein Wunder, es ist ihr doch keiner auf den Fersen! Nach einem Jahr findet sie es heraus und kehrt in die Hauptstadt zurück. Der deutschsprachige Lehrer-Leser fragt: „Was will uns dieses sagen? Worauf will Echenoz hier denn raus?“ Antwort dürfte schwerfallen. Jedoch: Man liest mit Vergnügen, man langweilt sich nie.

Echenoz‘ technische Brillanz macht ihn zu einem der größten französischen Autoren seiner Zeit. Obwohl er nichts im Roman detailliert beschreiben kann, keine wörtliche Rede benutzt, Landschaften, Orte, Charaktere nur immer kurz antippt, hat der Leser nie den Eindruck, in einer kühlen Versuchsanordnung zu stecken. Als hätte es alle Zeit der Welt, gleitet der Roman vorüber.

Man sehe sich diese drei Sätze an! Jetzt, hinterher, merken wir, dass Autolichter nächtliche Wanderer nie wärmten. Weder kann der hier genannte Gérard Victoire erkannt haben, noch Victoire je wissen, ob er das war. Erzählen wie ein Vorbeigleiten an dem, was man sonst hätte erzählen können.

Zitat:

Es kam auch vor, dass am dritten Abend ihrer erneuten Einsamkeit - Victoire wanderte immer noch am Straßenrand entlang, hielt unentschieden den Daumen hin und drehte sich nicht einmal nach dem ersten Motorengeräusch um -, das Licht von Scheinwerfern ihr leicht den Rücken wärmte, der Wagen aber fuhr vorbei, ohne zu bremsen. Als sie einen Blick nach ihm warf, meinte sie, ein eher älteres Fahrzeug zu erkennen, vom selben Typ, wie Gérard eines gehabt hatte, doch konnte sie - zu schnell, zu dunkel - das Innere nicht erkennen. Sie blieb stehen, die Rücklichter, wurden sehr schnell kleiner und verschwanden hinter einer scharfen Kurve; es war zwar unmöglich, dass der Fahrer sie nicht gesehen, aber wenig wahrscheinlich, dass er sie erkannt hatte. Victoire ging weiter.


[*] Diese Rezension schrieb: Klaus Mattes (2017-01-25)

Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.


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