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Friedrich Dürrenmatt - Meine Schweiz - Ein Lesebuch
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Dürrenmatt, Friedrich:
Meine Schweiz - Ein
Lesebuch

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(Bücher frei Haus)

Das Buch enttäuscht. Eine so von Dürrenmatt nie intendierte Zusammenstellung von Gelegenheitsäußerungen über die angeblich älteste Demokratie der Erde. Sie trägt den Nachteil in sich, großenteils den heutigen Charakter von Volk und Land ja nicht mehr kennen zu können, dafür im Übermaß mit, seinerzeit vielleicht schon überstrapazierten Fragen der fünfziger und sechziger Jahre aufzuwarten: Blockfreiheit, die Réduit-Strategie, der Röschtigraben zwischen der Romandie und den Alemannen, die Volksarmee und der Separatismus im bernischen Jura.

Zwar hat Heinz Ludwig Arnold (zusammen mit Mitarbeitern des Diogenes Verlags) reichlich „Stellen“ - vor allem aus Reden, Interviews und jener autobiografischen Werk-Rückschau „Stoffe“ - zusammengesucht, mit einem 40-seitigen, jedes Maß sprengenden Vorwort versehen, das unnötigerweise die danach noch kommenden Dürrenmatt-Original-Statements vorweg schon mal paraphrasiert, doch wir kommen nicht umhin zu sehen, dass Friedrich Dürrenmatt zwischen (zirka) 1950 und 1990 wohl immer dieselben Reden mit denselben vier oder fünf makabren Pointen gehalten hat.

Es geht um: die durchaus undemokratische Verfasstheit der Schweizer Kantone während langer Phasen der europäischen Geschichte, die Schweiz als Zweckverband entlegener Randzonen dreier Kulturkreise, deren immer riskante Stellung sie einen Kult der Elitesoldateska pflegen ließ, eine Moderne, die diesen Hinterwäldlern erst durch den Franzosen Napoleon verordnet wurde. Eben deshalb, weil das Militär für den Schutz der Heimat nie wirklich zu was gut war, nie seiner Zwecklosigkeit überführt werden konnte, sei es zur Heiligen Kuh geworden. In der Schweiz rückt, wer die lebenslang wiederholten Wehrübungen verweigern möchte, in Haft ein. Den Krieg Hitlers glaubte man meistern zu können, indem man komplett das fruchtbare, mit Volk, Arbeit und Infrastruktur versehene Mittelland als Verlust vorweg schon abschrieb, dafür eine Untergundkaserne voller Uniformierter unter den Gipfeln der Felsenwüste im Landeszentrum zu tauschen bereit war. Absurdität nach des Grotesk-Dramatikers Gusto.

Was zur Frage der Neugründung eines Kantons Jura folgt, ist mittlerweile überholt. Diesen Kanton gibt es ja nun längst. Die ehemals fürstbischof-baslerischen Katholiken an der französischen Grenze haben ihn erhalten, während die ebenfalls französischsprachigen Reformierten im Süden es schafften, beim deutschsprachigen Bern bleiben zu dürfen. Dürrenmatt schreibt noch von Bombenanschlägen, die es gegeben hat.

Auch sonst, sagt er, sei der Schweizer nicht etwa Vorbild für ein Europa mit Multikulti, Ausgleich, Anpassung und Akzeptanz, sondern vielmehr darin, ganz gleichgültig neben dem Anderen dahin zu leben und ihm immerhin das Recht zu gewähren, es seinerseits entsprechend zu halten. Nach wie vor sei die Romandie eine Provinz des Kultursterns Paris; das Tessin sei immer schon Hinterland der Metropole Mailand gewesen. Allein die Alemannen täten sich schwer mit einem Zentrum, von welchem sie sich immer abheben wollten, dem sie den Rang des Kultivierteren, Zivilisierteren, Raffinierteren vorzuspielen gedächten. Das bringe aber schon auch die Unausrottbarkeit der Schweizer Dialektvielfalt mit sich. Ihr fühlt er sich als Autor verpflichtet. Wer von Kindesbeinen an in einer Doppelsprachigkeit leben und denken müsse, entfalte eine spezielle Kreativität im Sprachvermögen, die dem dialektfernen Westschweizer nicht zugänglich sei.

Man gewinnt den Eindruck, Dürrenmatt hat sein eigentlich schmales Arsenal von ein paar Dauerdiskursen, dann bei jeder sich bietenden Gelegenheit die immergleichen Bonmots abgeschossen. Falsch sind diese Gedanken durchaus nicht. Aber es ist, wie auch sonst oft im Werk des selbstgefälligen Provinz-Prometheus: Alles ist stark verallgemeinert und dämonisiert, kommt von einem weit oben fliegenden Adlerauge herunter. Die Welt muss sein wie ein Sandkasten oder die Modelleisenbahn-Landschaft, er ihr philosophisch scheidender Deuter und Richter. Dürrenmatts Essayistik zieht nicht aus zu einer Nachforschung der manchmal sperrigen Wahrheiten des wirklichen Daseins. Wie doch, zum Vergleichsmaßstab, die Europa-Länderbeschreibungen des Hans Magnus Enzensberger, sagen wir mal, zumindest glaubhaft vorzugeben in der Lage waren. Dürrenmatt unterhält sich mit keinen Genfer Taxifahrern oder subventionierten Öko-Bergbauern am Hoch-Ybrig.

Dann ist der Frühvollendete ja auch noch abonniert auf diese Rolle des denkenden Radikalen, Rabenschwarzen, Gnadenlosen, des Ruhestörers in einer Konsensidylle von protestantischen Kleingewerblern. Also zaubert er seinen planetaren, atomaren Crash aufs Blatt, eine Apokalypse mit zehntausend bestialisch dem sonnenlosen Himmel entgegen stinkenden Kinderkadavern. Würden wir ihn fragen, was die doch noch ganz lebendigen Kinder der Nachbarn in seiner Straße einen langen Sommerferientag lag tun und sprechen, unser Gewährsmann vom Neuenburger Berg wäre überfragt.

Viel könnte für ein persönliches Schweiz-Porträt gestreift werden, was hier nicht vorkommt: das allsonntägliche Geknalle an den Schützenhäusern, die Innenstädte, in denen man noch merkt, wie der Bürgerstolz der prosperierenden Zeit um 1900 sich dargestellt hatte, etwas, was es in Österreich vielleicht noch geben mag, in Deutschland fast nirgends. Die orthodoxen Juden, die möglicherweise gerade vorbeigehen, kenntlich an ihren Hüten, Bärten und Locken. Dass die Landesflagge kein rechteckiges Tuch ist, vielmehr ein quadratisch eingefasstes Kreuz, in jedem kleinen Dorf mehrfach an jeglichem Tag zu sehen. Die gelben Wanderwegpfeile mit Kantonswappen draußen im Grünen, die kleinen Nummernschilder an den Fahrrädern, die Vignetten an der Windschutzscheibe, Billets für die Autobahn. Vita-Parcours (deutsch: Trimm-dich-Pfad) mit allenthalben denselben Stationstafeln eines Versicherungsunternehmens. Die Verkaufsstände für geröstete Esskastanien und Bratwürste in den Fußgängerzonen, die Wurst fast immer ganz angekokelt. Kaffee mit Kirschwasser, süßes Kastanienpüree mit Meringue und Sahne drauf. Das Steak vom Pferd. Dazu ein Zweierli Fendant oder Chasselas? Der Apero und ein Cüpli. Mit Gewehren und Grünzeugreisetaschen zur Wehrübung ausziehende Milizsoldaten in der Bahn. Die gepflegten und überaus freundlichen Pensionäre mit ihren Generalabonnements, dienstagmorgens im Schnellzug nach Locarno oder Montreux.

Andauernd Volksabstimmungen auf Unterschriftensammlungen hin, bei denen das Volk aber äußerst selten was will, das die bürgerlichen Parteien nicht wollen. Die Lehrer, über deren Stellen die Einwohner einer Gemeinde abstimmen. Exzellente private Kulturstiftungen und Ausstellungshäuser. Die so zahlreichen Kleinbühnen für hiesige Kleinkünstler, Musiker oder Schriftsteller, von denen die Welt jenseits der Grenzen nie Kenntnis erhalten wird. Und viele Schweizer, die während ihres ganzen Lebens nur in Ausnahmefällen Wochen im Ausland zubringen. Oft sind die Ferien beim Wandern im Bündner Land oder auf dem Jura. Studenten, die die Universitäten von Karlsruhe, Mailand oder Innsbruck nie in Erwägung gezogen haben. Man hat das Beste in Zürich und Lausanne. Pfadfinderschwärme in Uniform, kurz Hosen, bezifferte Wimpel. Die weiße Gipfelkette am Horizont eines in Wahrheit lieblich zahmen, aber sehr voll gebauten Hügellands. Flussschwimmbäder, Schaufelrad-Schiffe auf den blauen Fjord-Seen. Die teuren Zivilschutzkeller unter der Satellitenstadt. Die - für deutsche Verhältnisse - unglaublich hohen Mieten und Altersvorsorgeaufwendungen, die guten Einkommen jedoch auch. Jene fast undemokratische Überdemokratisierung, bei der seit mehr als zwei Menschenaltern, was immer der Wähler gewollt hat, stets dieselben Parteien ihre Koalition eingehen und die exakt sieben Regierungsdepartements aufteilen. Fernsehen und Radio, in denen Dialekt zur Regelsprache geworden ist, Magazinsendungen über Technik, Politik und Kultur nur im Dialekt, Nachrichten sind noch schriftdeutsch. (Das Wort „Hochdeutsch“ wird in der Schweiz nicht verwendet.) Schwyzer Örgeli, Villiger Kiel, Brissagos oder Stumpen. Migros, Coop und Denner, jene Ketten, bei denen fast alle Nahrungsmittel gekauft werden, die Rauchartikel aber nicht, die gestattet das Markenbild von Migros und Coop nur den Kiosk-Untermietern vor den Eingangstoren. Tour de Suisse. Harrassli Aproz und Elmer. Olma, die Landwirtschaftsausstellung, zu der ein Land nach St. Gallen reist. Oder die Mustermesse in Basel, wo sich eines schönen Tages dann Abwarte, Helgenmaler, Tschutter und Schwinger, AHV’ler, Paraplegiker und Saaltöchter ein Salü, Hoi und Tschau zämme sagen werden, Bünzli und Schmier aber auch und die Versäuberungen werden gebußt.

Wer Appetit oder Gluscht auf die Schweiz als Reiseland bekommen hat, lasse dieses Taschenbuch besser sein! Instruktive Gebrauchsanweisungen gibt es von Piper, Merian oder Dorling Kindersley. Im Zweifelsfall hat, was Dürrenmatt zum Thema Schweiz beiträgt, mehr mit den notorisch Dürrenmatt’schen Minotaurus- und Atompilz-Krakeleien zu tun als mit dem kleinen, cleveren, auch ziemlich formidabel eingerichteten Super-Schwaben-Gemeinwesen südlich des Hochrheins. Ist das hier denn Schweiz? Das hier ist Dürrenmatt:

Zitat:

Der Gottesdienst war eine Orgie. Die Gläubigen fielen übereinander her in der Hoffnung, noch fürchterlichere Mißgeburten zu zeugen. In Olten waren an großen Gerüsten Tausende von Primar- und Sekundarlehrern aufgeknüpft. Man hatte sie aus dem ganzen Land zusammengetrieben. Das „große Sterben“ dagegen hatte schon in Graubünden eingesetzt. Gaben die Menschen sich zuerst unbeschreiblichen Ausschweifungen hin, plünderten, zertrümmerten, vernichteten, was ihnen in die Hände fiel, entfachten ungeheure Brände und legten jeden Verkehr lahm, wurden sie später apathisch. Sie wurden von einer bleiernen Müdigkeit befallen. Sie saßen vor den Ruinen ihrer Häuser, die sie selber zerstört hatten, und stierten vor sich hin, blieben irgendwo liegen, starben.


[*] Diese Rezension schrieb: Klaus Mattes (2016-06-23)

Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.


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