Der aus St. Petersburg stammende Schriftsteller Fjodor Dostojewskij, der am 11. November 2021 seinen 200. Geburtstag gefeiert hätte, schrieb die vorliegende Novelle, Aufzeichnungen aus dem Kellerloch (oder auch: Untergrund), Anfang der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts in Moskau, auch wenn er im äußersten Winkel Petersburg in einem schäbigen Loch spielt. Dem vorausschicken sollte man vielleicht die Tatsache, dass der Autor selbst 1848, im Alter von 27 Jahren, bereits zum Tode verurteilt worden war. Ein Grund mehr, sich des faszinierenden Werks zu bemächtigen.
Ein einsamer König im Exil
Beruflich ist die namentliche Hauptperson, der Ich-Erzähler ein Kollegeinassessor, ein russischer Beamter im 8. (von 14) Rang der Beamtenklassen, wie Hans Walter Poll im lesenswerten Nachwort, das sich auch Dostojewskijs außergewöhnlicher Biographie widmet, ausführt. Der Protagonist ist 40 Jahre alt und freiwillig aus dem Dienste ausgeschieden, um sich ganz seinen Grübeleien in seinem selbstgewählten Exil, dem Kellerloch am Stadtrand von St. Petersburg zu widmen. Dabei spielen vor allem Überlegungen zur "Vernunft" nach Rousseau eine wichtige Rolle, die er mit einem Gedanken von Heine konterkariert. Viele sehen in vorliegender Novelle auch einen Angriff auf Tschernyschewskis Roman "Was tun?" (erschienen 1863), der die Vernunft propagierte. Dostojewskij hat seiner Novelle aber noch einen zweiten Teil hinzugefügt, der 16 Jahre früher spielt, als der Protagonist gerade einmal 24 Jahre alt ist. Er befindet sich in Gesellschaft seiner Freunde Swerkow, Trudoljubow und Ferfitschkin und sie verbringen einen feuchten Abend, der unweigerlich auch ins Bordell führt. Dort lernt der Protagonist die Prostituierte Lisa kennen, neben der er am nächsten Tag aufwacht. Seine Scham über die vergangene Nacht in der er nicht nur zu viel Alkohol trank, sondern sich auch gegen Swerkow und die anderen aufbrachte, lässt er kurzerhand an Lisa aus. Die "ehrbare Dirne" verfällt sogleich in Selbstzweifel und Verzweiflung, ist sie doch erst 20 Jahre alt und noch neu im Gewerbe. Der Plot des II. Teils ähnelt etwas dem von Taxi Driver, selbstverständlich ohne die ausufernde Gewalt: der Protagonist will die Dirne aus ihrer Umgebung lösen und tritt als Retter auf. Dabei hat er ihr doch nichts besseres als sein eigenes Elend anzubieten.
L'esprit souterrain
Nicht nur Friedrich Nietzsche lobte das Werk Dostojewskijs in höchsten Tönen. Er hatte beim Lesen der beiden Teile, das Gefühl einem Verwandten begegnet zu sein, der mit "einer leichten Kühnheit und Wonne der überlegenen Kraft hingeworfen, daß ich vor Vergnügen ganz berauscht war". Er bezeichnete den Zufallsfund des Buches in einer Buchhandlung sogar als "schönsten Glücksfall seines Lebens". Schon die ersten Zeilen der Geschichte sind hinreißend und verwickeln einen augenblicklich in den "Untergrund" des Erzählers, denn worüber kann ein anständiger Mensch mit größtem Vergnügen reden? Richtig, über sich selbst. "Also werde auch ich über mich selbst reden." Oft regt er sich auf, bis "die Verbitterung sich schließlich in irgendeine schmähliche, verfluchte Süße wandelte - in einen entschiedenen, wirklichen Genuss." Und dieser Genuss liege gerade in "dem allzu grellen Bewusstsein der eigenen Erniedrigung; in dem Bewusstsein, dass man an der letzten Mauer angelangt ist; dass (...) man nie und nimmer ein anderer Mensch werden wird". Der Kulturpessimismus, der hier durchklingt, wird an der Biographie des Erzählers ja geradezu vorexerziert. Denn der II. Teil erklärt ja genau das, warum er im I. Teil so geworden ist, wie er ist: ein kranker Mensch. "Ich bin ein kranker Mensch" ist der so wichtige, erste Satz, dieser Novelle, die den Grundstein auch für seine späteren Werke legte und deren Motive sich teilweise woanders wiederholen. Und noch eine Salve: "alle unmittelbaren und alle Tatmenschen sind ja nur tätig, weil sie stumpfsinnig und beschränkt sind. (...) Denn um die (echte,JW) Tätigkeit zu beginnen, muss man restlos beruhigt und aller Zweifel enthoben sein."
Ein Werk voller Einsichten und Enthebungen. Grandios!
Dostojewskij, Fjodor:
Aufzeichnungen aus dem Kellerloch
Textausgabe mit Anmerkungen/Worterklärungen und Nachwort
Übers. von Swetlana Geier
Nachw. von Hans Walter Poll
164 S.
ISBN: 978-3-15-008021-4
5,20 €
Reclam Verlag
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2021-11-24)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.