Sankt Petersburg im Jahre 1860: Eine aus dem Nichts, genauer gesagt nach dem Willen eines Zaren in einem Sumpfgebiet entstandene Metropole. Umgeben von einer ins Unendliche fließenden Agrargesellschaft konzentriert sich hier die politische Macht, der Reichtum und das Kapital. Wenn es irgendwo im weiten Russland Kapitalismus gibt, dann hier an der Newa. Hunderttausende verarmte Landsklaven zieht es ebenso in die Stadt wie wissenshungrige Studenten, die sich über die Bildung aus der Armut befreien wollen. Jenseits der Herrschaftshäuser drängen sich die Besitzlosen in Holzhütten, die hygienischen Bedingungen eine Katastrophe, die Armut in ihrer bestialischsten Form, die Prostitution als ehrlicher Broterwerb und Massenphänomen.
In diesem Milieu strandet Raskolnikow, der Held. Jurastudent, klug, jung. Er strebt eine gerechte Welt an und findet sich in der Hölle wieder. Schnell macht er die bösen Elemente aus. Und kaum hat er eine gierige Pfandleiherin als den Ausbund menschlicher Degenerierung ausgemacht, schmiedet er den Plan eines perfekten Mordes. Mit cartesianischer Logik geht er vor, erschlägt wie geplant das Monster mit einem Beil und gleichsam noch eine ungewollte Zeugin, eine intellektuell eingeschränkte Schwester des Opfers.
Nach der kalten cartesianischen Tat quält Raskolnikow das Gewissen. In seiner wachsenden Pein gesteht er alles der Prostituierten Sonja, deren Name im deutschen nicht zufällig Traum bedeutet. Die verinnerlichten Werte treiben den Logiker in das Feuerbad der Schuld. Immer wieder übermannt ihn das Fieber. Raskolnikow wird zerrieben in dem Konflikt zwischen Vernunft und Mythos. Letztendlich obsiegen die ethisch gesetzten Werte.
Der ermittelnde Staatsanwalt, der mit seiner Unschuldsmiene, seinen zirkulären Fragetechniken und selbst in seinem Outfit die Regievorlage für den späteren Columbo gedient hat, führt das Unbewusste heim ins Geständnis. Mit großer Empathie und seiner eigenen Distanzierung von einem Kraftfeld, in dem Schuld eine Rolle spielt, gelingt es ihm, Raskolnikow zu suggerieren, dass es eine Logik gibt, die frei ist von seelischer Pein. Allerdings nur bis zu dem Zeitpunkt, an dem der Deliquent im Netz zappelt. Danach geht die Reise nach Sibirien, wo erst Gefühle wie Reue aufkommen können.
Dostojewskis Wurf, der ebenfalls sehr modern als Fortsetzungsroman in einer Tageszeitung begann, nebenbei mit Schuld und Sühne verheerend ins Deutsche übersetzt wurde und fast einhundert Jahre eine vernünftige Interpretation verhinderte, ist eine grandiose Inszenierung eines Universalthemas der Moderne. Der Konflikt zwischen Sach- und Wertorientierung, zwischen cartesianischer Logik und christlichem Werteensemble bestimmt Erfolg und Misserfolg der handelnden Subjekte. Nicht der Rote Oktober, sondern dieser Roman ist das Modernste, was Russland je hervorgebracht hat.
[*] Diese Rezension schrieb: Gerhard Mersmann (2010-12-29)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.