Wer diesen Film vorstellt, läuft Gefahr, dabei mehr über sich als über das Werk mitzuteilen. Das erscheint paradox bei einem Streifen, der eine sehr spezielle Situation an einem relativ exotischen Ort behandelt. „Glue“ (englisch: Leim, Klebstoff) wurde 2006 gedreht, spielt in Patagonien und erzählt, wie der sechzehnjährige Lucas (Nahuel Pérez Biscayart) frühe bisexuelle Erfahrungen macht. Das Vertrackte daran ist, wie Alexis Dos Santos seinen Erstling realisiert hat. Er tat es in einem quasi halb-dokumentarischen Stil, mit sehr jungen, unverbrauchten Schauspielern, denen nur der Rahmen der Handlung vorgegeben war und die weitgehend improvisieren durften. Herausgekommen ist etwas Einmaliges, ein Film, dessen drei Hauptfiguren ebenso individuell wie zugleich recht typisch sind. Es sind Gestalten nicht nach der Natur, sondern wie selbst Natur. Sie verkörpern nichts, sie sind einfach gegenwärtig und d.h. voller Widersprüche. Dos Santos hat sie und ihre Lage nicht klar definiert, ihre Handlungen und Gefühle können auf die eine oder die andere Weise interpretiert werden. Dabei wird jede Deutung einseitig bleiben und dem Film bis zu einem gewissen Grad nicht gerecht werden.
Beim ersten Ansehen ist der Eindruck leicht verwirrend: allein schon diese häufig eingeschobenen Super 8–Sequenzen! Man muss den Film wiederholt anschauen, dann erst erkennt man den beträchtlichen Anteil Kunst hinter dem Chaos. Auch Lucas selbst findet sich kaum zurecht. In seiner zerrütteten Familie kommt er sich fremd vor, und dennoch erlebt er Verständnis und Zuwendung in ihr. Seine Mutter gibt daheim Nachhilfe in Englisch, ein Schüler versteht zunächst die Vokabel „together“ nicht. Lucas könnte das auf sich beziehen. Er will unbedingt in Kürze sein erstes Mal erleben und zweifelt bereits: Ob Blasen den Mädchen wirklich Spaß macht? Er schreibt allerdings schon fetzige Texte über Sex für eine Band und trägt sie selbst vor. In der Band ist auch Nacho (Nahuel Viale), sein einziger Freund. Wenn sie unter sich sind, erfasst man an dem intimen Tonfall, dass nur Nacho Lucas` wahre Familie ist. Woran denkt Nacho, wenn er mit anderen Fußball spielt, fragt sich Lucas? Oder wenn er wichst? Und: Träumt er von mir? Nachos stärkere Behaarung beschäftigt ihn.
Lucas hat von einem Themenhotel in der Provinzhauptstadt gehört: Zimmer zum Ficken wie in berühmten Filmen. Er und Nacho machen sich über einen Maty als Batman lustig. Nacho: Und seine Freundin? – War dort Catwoman. – Lucas schwebt etwas Ähnliches vor: Wenn sein Vater demnächst wieder ein Wochenende in der Familie verbringt, könnten sie doch in seiner freien Wohnung in Neuquén eine Party veranstalten. – Mit einem Mädchen? – Klar. – Sie besuchen also Andrea (Inés Efron), um sie einzuladen. Andrea geht weg, um Getränke zu holen, und die Besucher sehen sich in ihrem Zimmer um. Lucas findet gleich eine Halbmaske à la Catwoman, setzt sie auf und legt schnurrend seinen Kopf dem Freund auf die Brust. Der tut ein bisschen unangenehm berührt. Lucas sagt: Ich bin ein Kätzchen, kraule mich. Dann schnappt er sich die männliche Affenpuppe auf Andreas Bett und führt aus Jux an ihr alle nur denkbaren sexuellen Handlungen vor. Andrea kommt mit Milch und Kakao, Maske und Affe fliegen in die Ecke. Andrea nimmt die Einladung nach Neuquén an, will eine Freundin mitbringen.
Am Wochenende aber versetzt sie die beiden, die vorausgefahren sind. Lucas und Nacho legen sich daraufhin gleich ins Bett – um Papas Klebstoff zu schnüffeln. Dabei haben sie ihr erstes gemeinsames Mal, und Nacho ist so erschrocken, dass er gleich wieder heimfährt. Lucas wird bald von seinem Vater in erbärmlichem Zustand aufgefunden, von ihm gesäubert und wieder auf die Füße gestellt, eine Art von zweiter Geburt, mit einem Vater in den Rollen von Hebamme und Wöchnerin. Später haken Lucas und Nacho das Vorgefallene nonverbal ab. Sie machen ein bisschen Musik zusammen und geben sich so zu verstehen, dass sie noch die Alten sind.
Ihre Beziehung zu Andrea intensiviert sich in der Folge. Ist Andrea für sie Mittel zum Zweck, sich noch näher zu kommen, und zwar ohne Schuldgefühle? Andrea scheint dazu besonders geeignet. Sie ist ein wenig herb, gebremste Weiblichkeit, die sich wünscht, lieber ein Junge zu sein. Die Jungs nehmen sie in der Disco mit aufs Männerklo, und dort knutschen und fummeln sie zu dritt. Täusche ich mich, wenn ich dabei Lucas und vor allem Nacho ein klein wenig stärker um den Freund als um Andrea bemüht finde? Ja, wahrscheinlich täusche ich mich, denn in der Schlussszene scheint Andrea vollwertiges Mitglied dieser Ménage à trois geworden zu sein. Sie radeln jetzt zu dritt harmonisch durch jene Ruine von Fabrikhalle, die bisher das Rückzugsgebiet der beiden Freunde allein war. Dann klettern sie auf einen leeren, zylindrischen Tank, der auf der Seite liegt und rollen auf ihm balancierend herum, ihr Bild eine Apotheose unschuldiger Bisexualität. Andrea lässt sich als Erste wieder hinab, kommt sozusagen auf dem harten Boden künftiger Realität an. Nacho folgt ihr. Für einen kaum wahrnehmbaren Augenblick nehmen wir Lucas noch allein oben wahr, dann setzt der Abspann ein. Lucas hat gerade den Gipfel womöglich nie wieder so vollkommenen Glücks erlebt.
Man kann es natürlich auch ganz anders sehen …
Was noch fehlt: Der mehrfach ausgezeichnete Film ist atemberaubend schön und originell fotografiert. Die rasante Musik – u.a. von den „Violent Femmes“ - passt hervorragend. Und schließlich ist „Glue“ abschnittsweise unvergleichlich komisch.
[*] Diese Rezension schrieb: Arno Abendschön (2012-06-24)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.