Mit frühen Schriften späterer Literaturgrößen kann es so eine Sache sein. Wenn man nicht aufpasst, interpretiert das Feuilleton sehr schnell unbeholfene Schreibversuche bereits als das Gen für spätere Größe. Dass es nicht immer so ist, wissen wir allerdings auch. Die nun zum ersten Mal in deutscher Sprache vorliegenden und unter dem Titel Orient-Express veröffentlichten Texte von John Dos Passos jedoch sind ein wichtiges historisches Dokument. Und das in vielerlei Hinsicht: Sie stehen zwischen den sehr frühen, juvenilen Erzählungen des schreibenden Soldaten und dem Revolutionär des metropolitanen Romans, der mit den bürgerlichen Erzähl- und Entwicklungslinien bricht. Und, die Berichte und Versuche der vorliegenden Schriften sind eine brandaktuelle Schau auf das, was der Westen den Nahen Osten zu nennen pflegt, ein Artefakt europäischer Kolonialpolitik, mit seiner artifiziellen Grenzziehung und Durchtrennung von Handelsstraßen und kulturellen Zusammenhängen, die das uns bis heute bekannte Pulverfass zeitigten.
Der damals 25Jährige Dos Passos reist zunächst von Oostende mit dem Zug bis Istanbul, wo er einige Zeit verbringt, bevor er sich aufmacht über den Kaukasus nach Batum am Schwarzen Meer, von wo aus er seine Reise fortsetzt bis nach Teheran, Bagdad und Damaskus. Istanbul wird geschildert als ein Jahrmarkt der Geheimen Dienste aller möglichen Großmächte und einer Stadt, in der die Türken selbst nur eine Randerscheinung darstellen. Die Erfahrungen der gerade annektierten oder kurz davor stehenden Sowjetrepubliken erlebt Dos Passos vor dem Hintergrund einer erdrückenden Hungersnot. Seine Mitreisenden, vor allem in dieser Weltregion kundige muslimische Händler oder Emissäre, verschaffen ihm Zugang zu sonst verschlossenen Quellen. Teheran dechiffriert der junge Amerikaner als einen Hort der Weltkultur, Bagdad als einen ewigen Zankapfel der Kolonialmächte und Damaskus als einen unüberschaubaren Moloch an Gefahren und Möglichkeiten.
Das Faszinierende an den unterschiedlichen Erzählungen ist die Modernität von Dos Passos´Sprache, mit der es ihm gelingt, jahrtausendealte Sinnzusammenhänge geschickt auf den Punkt zu bringen. In den Sätzen sehen wir schon das Üppige, Frevelhafte und Gefühlskalte, das uns später in seinem Meisterwerk Manhattan Transfer begegnet. Und auch hier arbeitet er bereits mit Ansätzen der Collage. Interessant dabei ist, dass die scheinbar für Manhattan Transfer und die U.S.A.-Trilogie entwickelten Collage- und Schnitttechniken bereits hier ausprobiert werden, obwohl ihr Anwendungsgebiet eher einer archaischen Deutung auf die Schliche kommen soll. Insofern ist Orient-Express die Vorbereitung auf den großen Wurf, erprobt an einem historisch vollkommen anderen Sujet.
Was über die Frage der Schreibtechnik und die Impressionen eines Reisenden hinausgeht sind die Reflexionen, denen Dos Passos vor allem während seiner siebenunddreißigtägigen Karawanen-Reise von Bagdad bis Damaskus auf einem Kamelrücken quasi erliegt. Der sich nur wenige Jahre später mit einer ungeheuren Verve zur Moderne bekennende junge Mann unterliegt hier einer Art Zivilisationsdepression, die sich auf das Tempo und die kalte Technik des Westens bezieht. Stark vereinfachend bringt er den Vergleich zwischen Orient und Okzident auf den Punkt: Während der Westen nach Stimulanzen sucht, die das Leben in neue Geschwindigkeiten einmünden lässt, sind die Menschen im Osten darauf aus, das Leben zu entschleunigen. Das sind nicht nur bis heute zutreffende Beobachtungen, sondern Erkenntnisse, die man den politisch Handelnden bei den immer wieder entflammenden Konflikten wünschen würde. Dos Passos selbst schloss daraus, dass wir Söhne Homers bräuchten, die das schrille Getöse der Welt in einen menschlichen Rhythmus brächten und den Menschen die Angst nähmen. Dos Passos selbst hat es gar nicht erst versucht.
[*] Diese Rezension schrieb: Gerhard Mersmann (2013-09-16)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.