Als Anfang 2011 der 2009 gedrehte frankokanadische Film „J’ai tué ma mère“ in die deutschen Kinos kam, überhäufte ihn auch die einheimische Kritik mit enthusiastischem Lob, so wie es die internationale zuvor schon getan hatte. Der Ausdruck Wunderkind fand inflationären Gebrauch – ein Neunzehnjähriger lieferte als Regisseur und Hauptdarsteller einen mitreißenden Film ab, für den er schon mit siebzehn das Drehbuch geschrieben hatte, erstaunlich, in der Tat. Wie viel ist dran an dem Meisterwerk des Frühreifen?
Die Story ist so weltbewegend nicht. Der sechzehnjährige Hubert aus Montreal liegt im Dauerclinch mit seiner alleinerziehenden Mutter. Er ist mehrfacher Außenseiter, ist künstlerisch veranlagt und intellektuell seinen Klassenkameraden weit überlegen und er ist schwul – von letzterem Sachverhalt hat die berufstätige Mutter noch keine Ahnung. An ihr stört ihn jetzt alles, er bekommt sein Verhältnis zu ihr nicht in den Griff und sie ihn noch viel weniger. Die nicht bloß verbalen Auseinandersetzungen zwischen ihnen spitzen sich zu. Huberts Eltern – der geschiedene Papa tritt nur dieses eine Mal in Aktion – schicken das schwierige Kind auf ein Internat in abgelegener Ländlichkeit. Hubert hält dort eine Weile durch, rückt dann aus und trifft sich am Schluss mit der Mutter in dem Landhaus, das die Familie vor der Scheidung bewohnt hat – Ende offen. Ein Gegengewicht zur desolaten Familiensituation bildet Huberts stabile Beziehung zu einem Mitschüler aus Montreal, der seinerseits in wohltuend harmonischer Beziehung zur eigenen alleinerziehenden Mama lebt.
Während die Szenen in der Stadt straff und eindrucksvoll erzählt werden, bleibt die Internatsepisode merkwürdig unpräzise und unzusammenhängend. Der Filmschluss lässt einen etwas ratlos zurück: Nachdem Hubert so lange zielstrebig um Abgrenzung und Lösung, um Autonomie bemüht war, kehrt er – für einen Moment oder länger – in die frühkindliche Idylle und Geborgenheit zurück? Zuvor schon macht sich im Film gelegentlich eine recht bemüht wirkende Nähe zu Sigmund Freud bemerkbar. Dabei wäre der Film ohne diesen Rekurs auf eine ödipale Konstellation glaubwürdiger, sein Held ist ohnedies beladen und der Filmkonflikt motiviert genug.
Und dennoch: Der Film ist mitreißend und überzeugend, ist trotz dieser Schwächen des Skripts ein großer Wurf, allein durch seine ästhetische Umsetzung. Er verarbeitet geschickt viele Einflüsse aus anderen Filmen, aus der Malerei und der Literatur. Man spürt in nahezu jeder Szene diesen sehr stabilen Unterbau. Man fühlt sich als Zuschauer auch geradezu bestochen von der geschmacklichen Sicherheit in den kleinen und größeren Details. Das Dargestellte ist immer kraftvoll, ohne jemals überzogen zu wirken. Das ist das tatsächliche Wunder am Werk dieses Neunzehnjährigen. Er selbst wie Anne Dorval als Mutter und die Darsteller der Nebenrollen agieren durchgehend mit so großer Spielfreude, dass man sich eher in einer laufenden Theatervorstellung als in einer Filmvorführung wähnt, so groß ist der Eindruck von Präsenz und unmittelbarer, glaubwürdiger Verkörperung.
Die Realisation rechtfertigt also durchaus, dass der Film mit Preisen überhäuft wurde (allein drei in Cannes). Dennoch fragt man sich ein wenig bang: Was ist nach derartigem Beginn noch an Steigerung möglich? Gerade kam Dolans zweiter Film „Les amours imaginaires“ (Übersetzungstitel: „Herzensbrecher“) als DVD auf den deutschen Markt. Die ersten Publikumsreaktionen sind vielversprechend.
[*] Diese Rezension schrieb: Arno Abendschön (2012-01-13)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.