Nach zuletzt hundertdreiundzwanzig Jahren Fremdbestimmung und mehreren gescheiterten Aufständen konnte sich Polen im Zuge des Ersten Weltkrieges von seinen Besatzungsmächten Deutschland, Österreich und Russland befreien. Im Dezember 1918 hatte sich von Posen aus der Großpolnische Aufstand (Powstanie Wielkopolskie) formiert, der die Großmächte im Versailler Vertrag (1919) zur Anerkennung des polnischen Staates zwang.
Nur wenige Jahre später, 1924, bereist Alfred Döblin (1878-1957), Nervenarzt in einem Arbeiterviertel Berlins und Schriftsteller, für mehrere Monate das unabhängige Land, welches mittlerweile im Krieg gegen russische Bolschewiken und ukrainische Bauerntruppen seine Ostgrenze festigen konnte, und sich über Teile Litauens, Russlands bis in die westliche Ukraine erstreckt.
Döblins Stationen sind: Warschau, Wilno, Lublin, Lemberg, Boryslaw und Tustanowice (im Naptharevier), Krakau, Zakopane und Lodz, die Rückreise endet im deutsch/polnisch verwalteten Danzig.
Was findet er vor? Ein Land, das heterogener kaum sein könnte, ein Land, das polarisiert; von konservativ fromm bis aufgeschlossen klerikal, von europäisch modern bis übersensibel nationalistisch, von reich bis arm. Die Unterschiede zwischen litauischen, ukrainischen Gebieten, aber auch innerhalb des traditionellen Territoriums um Groß-, Kongresspolen und Krakau selbst sind eklatant.
„Und wie ich am Morgen in Lemberg durch die große Straße gehe [...] bleibe ich in einem ruhigen Atmen. Die Verstummung ist vorbei [...] Mein Herz geht auf. Schauerlich war Lublin: diese Armut, Enge, der Schmutz.“ (183)
Wieder einmal zeigt sich, wie wenig die Menschen aus der Historie zu lernen imstande sind. Kaum der Okkupation und Unterdrückung entronnen, handelt die Staatsmacht des junge Polens nicht anders, als es das selbst über Jahrhunderte erdulden musste. Völker werden unter Zwang zusammengehalten, die nicht zusammengehören. Wie ein Kind, das geschlagen wurde und sich später nicht anders zu helfen weiß, als mit Gewalt. In der Ukraine werden eigene Universitäten unterbunden, Zeitungen zensiert, politisch aktive Ukrainer inhaftiert. Die Lage in Lemberg, das in seiner Lebensart Wien näher steht als Warschau, ist gespannt.
„So leben die drei Völker in Lemberg zusammen, nebeneinander: Polen, die Stadt beherrschend, aufmerksam, lebendig, die Besitzer, - Juden, vielspältig, versunken und abweisend, oder mißtrauisch, sich wehrend, rege, zum Leben erwacht, - Ukrainer, unsichtbar, lautlos hier und dort, zurückhaltend, jähzornig, gefährlich, trauernd, die Spannung von Verschwörern und Aufrührern um sich.“ (205)
Von diesen politischen Wirren, um territorialer Machterhaltung und Machtbegehren einzelner Interessengruppen hat der Autor längst die Nase voll. Als freche Hochmut bezeichnet er das, was man als nationale Gemeinschaft an die Spitze aller stellt; ein Körper mit schlechtem Blut. Wichtig ist ihm, ganz Döblin eigen: der Einzelmensch, der in diesem Körper existieren muss, der Blick auf die Ärmsten der Armen und auf den jüdischen Mitbürger, ein Blick, der dieses Werk so entscheidend prägt und lebendig macht. Sein Bekenntnis:
„Der Mann mit dem Kneifer an meinem Tisch legt seine Zeitung hin, zählt Geldbündel [...] Mein Gott, ich mag diese nicht. Es ist nichts mit ihnen. Bei den Armen der Peripherie [...] bin ich.“ (188)
So zieht es ihn geradezu wie ein Magnet in die Slums der Städte, die er besucht, um schrecklichste Zustände kenntlich zu machen. Erdrückend scheint die Armut des damaligen Polens, kotige Straßen, zusammengefallene Häuser, Kriegsschäden. Auf Marktplätzen, in Armenvierteln, vor Gotteshäusern vegetieren die Bettler in Scharen.
„Alles in Lehm und Unrat von Stroh, Schutt, Abfällen versinkend. [...] Gebückte Alte in entsetzlich zerrissenen Kaftanen, schmierig, mit lumpigen Hosen, aufgeplatzten Stiefeln suchen am Boden in dem Unrat mit Stöcken.“ (230)
Auffällig häufig gehören diese Menschen dem jüdischen Volk an, das Döblin fasziniert und auf das er immer wieder zurückkommt - zurückkommen muss, denn auch die Juden sind von ganz unterschiedlichem Schlag. Was als eigenständiges Volk innerhalb einer Nation gilt, stellt sich als ebenso unhomogen heraus, wie die Nation selbst. Döblin nimmt an ihren Ritualen und Zeremonien teil, wandert an Festtagen den pilgernden Massen hinterher, besucht Rabbis, versucht sich ein differenziertes Bild von dem polnischen Judentum zu machen. Und auch hier führen ihn seine gesunde Neugierde und die Suche nach dem Authentischen bis hin zur ganz großen Ernüchterung:
„Was die aufgeklärten Herren, die jüdischen Aufklärer sagen werden, weiß ich. Sie lachen über ‚die dummen rückständigen’ Leute ihres eigenen Volkes, schämen sich ihrer.“ (250)
Dabei beginnt die Reise ganz euphorisch, man hat den Eindruck von lockeren Stilübungen für den 1929 folgenden Roman „Berlin Alexanderplatz“. Das bietet sich generell an, angesichts der Konzentration auf die Großstädte. So finden sich auch die typischsten Merkmale des modernen Großstadtromans immer wieder; Massen, Gedränge, Marktplätze, die Elektrische, und eine latente Einsamkeit und Verlorenheit, die auch ein Biberkopf in Berlin erfahren wird. Zunehmend gewinnt mit dem Ernst der Lage jedoch das dokumentarisch deskriptive überhand, wenngleich mit expressionistischen Einschlägen. Insbesondere wenn Döblin in Menschmassen eintaucht, löst sich die normative Sprachlogik auf und zersprengt in eine kurze, abgehackte und telegraphische Sprache der Überreizung und Ohnmacht. Das Werk lebt von Kontrasten, es schockiert, es rührt und es bringt große Lesefreude, denn an Ironie und witzigen Anekdoten lässt es der Autor trotz aller Umstände nicht fehlen.
Nach allem sollte nun klar sein: „Reise in Polen“ ist keine Anregung ein Land touristisch zu erschließen; hierfür wendet man sich lieber an den Baedeker. Dieses Werk ist eine Bestandsaufnahme, eine Quelle über das bunte Treiben in einem jungen Staat, der mit dem Ausrottungsfeldzug Hitlers 1939 sein abruptes und grausames Ende fand.
Neben der politischen Landschaft, der gesellschaftlichen Struktur und Kultur, rücken insbesondere die jüdischen Mitbürger immer wieder in den Vordergrund der Betrachtung. Dabei wird deutlich, dass das Leben des jüdischen Volkes kein homogenes war, sondern so facettenreich wie das Land selbst.
Wer sich für Polen oder das Judentum interessiert, wird an diesem einzigartigen Werk nicht vorbeikommen. Alle Übrigen sollten sich einen Ruck geben, denn „Reise in Polen“ schließt eine klaffende Lücke im historischen Polenbild des bundesdeutschen Zeitgenossen.
(Zitate entnommen aus: Döblin, Alfred: Reise in Polen, Deutscher Taschenbuch Verlag, München 1987, 4. Aufl. 2006.)
[*] Diese Rezension schrieb: Alexander Czajka (2008-09-12)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.