Ein neuer Superschurke macht das Paris der Vorkriegszeit unsicher und schreckt nicht davor zurück, mit dem Elend ganzer Nationen Profit zu machen. Sein Name ist Tanatos, er trägt ein blaues Kostüm, eine blaue Maske und verkleidet sich auch ansonsten liebend gerne mit Latexmasken, um die Identität öffentlicher Würdenträger anzunehmen und seine Verwirrspiele mit ihnen zu treiben. Er erinnert etwas an Fantomas, aber ihm ist die komische Note völlig abhanden gekommen, sein Ziel ist allein die Bereicherung und das obwohl er schon in einem Schloss wohnt und Graf ist. Immerhin hält er seinen Bediensteten die Treue, denn er befreit etwa „Angsttöter“ (ja, das ist sein Name!) aus den Fängen der Polizei, wenn auch nur, um ihn am „Singen“ zu hindern. Tanatos, ein Batman des Bösen, hortet eine ganze Menge moderner Erfindungen in seinen Höhlen, darunter etwa ein Flugzeug, ein Schnellboot oder sogar einen Hubschrauber, alles Dinge, die es in dieser modernen Ausfertigung damals (vor dem Ersten Weltkrieg) noch lange nicht gab.
Wie gesagt, wir schreiben die Zehnerjahre. Paris, Frankreich, die ganze Welt am Vorabend des Ersten Weltkrieges. In der Nationalversammlung gibt es nur mehr wenige Abgeordnete, die gegen einen Krieg stimmen, besonders, die, die Rüstungsaktien besitzen, befürworten ihn natürlich. Tanatos liefert diesen „Falken“ den nötigen Vorwand, bald wird die letzte „Taube“ Jean Jaures (der reale Sozialistenführer) von der Rechten ermordet und das Chaos kann ausbrechen. Verdienen tun am Ende nur die französischen und deutschen (Tanatos: „Die deutschen sind charmante und vornehme Leute. Sich mit ihnen zu bekriegen ist schon ein Glück!“) Rüstungskonzerne, die sogar einen bilateralen Vertrag über die Zugänge zu den Metallminen während des Krieges abschließen. „Tanatos“ ist ein semidokumentarischer, sehr realistisch gezeichneter und erzählter Comic, der Versatzstücke aus der Realität verwendet, um sie auf eine neue Art und Weise zu kombinieren und damit noch mehr Spannung zu erzeugen. Denn eigentlich war die Zeit vor dem Ersten Weltkrieg ja auch so schon spannend genug, aber die ganze Misere einem Superschurken wie Tanatos in die Schuhe zu schieben und dabei auch noch Gesellschaftskritik zu üben, das hat die Welt so noch nicht gesehen! Ein gelungener, wunderschön gezeichneter Comic, eine semirealistische Graphic Novel, die seinesgleichen sucht.
Natürlich gibt es auch eine kleine Liebesgeschichte und Referenzen an die französische Literatur. So arbeitet der ernsthafteste Gegenspieler von Tanatos, Louis Victor, nicht etwa bei der französischen Polizei, sondern für die Detektivagentur Fiat Lux. Wer ein aufmerksamer Leser unserer Buchseite ist, wird wissen, dass Fiat Lux keinen Geringeren als Nestor Burma, den berühmtesten und wohl sympathischsten Detektiv aller Zeiten, beschäftigt (siehe dazu die Rezension von Leo Malet auf unserer Buchseite). Louis Victor und Nestor Burma sind also quasi Kollegen und als solcher nimmt es auch Victor mit seiner beruflichen Pflicht sehr ernst: Bevor er „Angsttöter“ in einer atemberaubenden Verfolgungsjagd über die Dächer und Regenrinnen von Paris verfolgt, muss er in das Dachzimmer der Prostituierten einsteigen, bei der sich sein „Klient“ versteckt hat. Diese spricht ihn unschuldig in ihrer Nacktheit an, dass es eine Schande sei, so bei einer ehrenwerten Dame einzudringen, worauf Victor schlagfertig antwortet: „Ihre Ehre riecht nach billigem Parfüm, gepanschten Wein, Schweiß und Sperma!“ Zwar nicht ganz die feine Art, aber einen seriösen Detektiv wie Victor soll man eben nicht von seiner Arbeit abhalten. Auch auf die Avancen der Chefsekretärin, Melanie, spricht Victor übrigens nicht oder nur sehr zaghaft an, aber die Leser dürfen dennoch auf ein Happy End hoffen, denn die Hoffnung stirbt zuletzt. Zumindest was die Liebe betrifft!
Und Tanatos? Wer ist er eigentlich? Seine Komplizen - oder besser: Untergebenen -„Angsttöter“ und „Um-die-Ecke-Bringer“ vermuten nur allzu korrekt: „Er ist nicht wie wir. Er ist der Teufel. Nur dass der Teufel nicht so durchtrieben und grausam ist.“ Tanatos versteht es durch Fälschungen und seine Maskenparade ein politisches Komplott in die Wege zu leiten, das ihn am Ende in jedem Fall als Sieger erscheinen lässt, denn der entfesselte Weltenbrand kann nun einmal nicht mehr gelöscht werden und die Rüstungsaktien steigen und steigen. Im Ersten Weltkrieg starben 9 Millionen Menschen, 30 Millionen wurden verwundet und 6 Millionen wurden zu Invaliden. Ganz zu schweigen davon, dass er auch die Grundlage für den Zweiten Weltkrieg lieferte, denn eigentlich war es der eine, der „Lange Krieg“. Wer daran verdient hat und Schuld ist: allein Tanatos! Der Todestrieb, wie meine lieben Leser, von Sigmund Freud her ohnehin schon lange wissen…Ein fabulöser, unvergleichlich pointierter, engagierter und lesenswerter Comic, wie ihn die Welt noch nie gesehen hat!
Didier Convard - Jean Yves Delitte
TANATOS
1 Der Sohn des Todes
(inklusive: Das blutige Jahr und Der Tag des Chaos)
In sich abgeschlossener Comic
Aus dem Französischen von Marcel Le Comte