Die „visuelle Alphabetisierung“ des einfachen Volkes lag im Focus vieler dieser propagandistischen Fotowerke, die versuchten, das sowjetische Aufbauwerk von seiner besten Seite zu zeigen. Aleksandr Rodtschenko forderte Anfang der 20er Jahre seine Kollegen vehement zur Agitation auf, denn die Fotografie habe wesentliche Aufgaben bei der Gestaltung des neuen gesellschaftlichen Lebens in der Sowjet. „Um dem Menschen zu einem neuen Sehen zu erziehen muss man alltägliche, ihm wohlbekannte Objekte von völlig unterwarteten Situationen zeigen. (…) Wir sind verpflichtet zu experimentieren.“ Die Abbildung einer Fabrik sei nicht ehr einfach nur die Aufnahme eines Gebäudes, sondern ein „Faktum des Stolzes und der Freude der Industrialisierung des Landes durch die Sowjets. „Anton gavarit: Vod nasch savod“, wie es in meinem alten russischen Lehrbuch aus den 80igern hieß: „Anton sagt: Das ist unsere Fabrik.“
Neben Bildern bekannter Schriftsteller (Majakowski, Pasternak) oder anderer Persönlichkeiten (Eisenstein, Lenin, Gorkij) und Propagandaerzählungen aus dem Leben des einfachen Arbeiters Filpow sind vor allem die Fotodokumente von Georgij Anatol’ewitsch Sel’ma über Usbekistan beeindruckend. Foto Nr. 169 zeigt etwa eine sowjetische Staatsbeamte vor einem Poster Lenins. Vor ihr stehen die offiziellen Stempel der neuen Staatsmacht, neben ihr eine Kleidersäule und ein Mann. Erst beim zweiten Hinsehen, versteht man, dass es sich um eine Hochzeit handelt und die Stoffsäule eine Frau hinter einer Burka ist. So prallen Tradition und Moderne auf einem Foto radikal aufeinander, Usbekistan 1925, acht Jahre nach der Revolution, im Jahr 1 nach dem Ende des Bürgerkriegs. Beeindruckend sind natürlich auch die Industrialisierungsleisten der neuen Sowjetmacht, die fotodokumentarisch hier festgehalten wurden. Auch die „Iljitsch“-Glühbirne, benannt nach Lenin, kommt zu ihren Ehren.
Das beeindruckende Fotobuch „Sowjetische Fotografien 1918-1941. Die Sammlung Daniela Mrazkowa” ist im Steidl Verlag erschienen Ab Ende der 1920er Jahre wurde das zunächst sehr kreative Potential der sowjetischen fotografischen Avantgarde zunehmend reglementiert und auf die Propaganda des Sozialistischen Realismus reduziert. Daniela Mrazkowa hat ihre einzigartige Sammlung – Bilder von Arkadi Schaichet, Georgij Zelma, Boris Ignatowitsch, Max Alpert, Georgij Petrussow und Alexander Rodtschenko – in der Hochphase des Kalten Krieges zusammengetragen, um auch dem “anderen Rußland” eine Stimme zu geben. Diese Kollektion von 234 Bildern wurde vom Museum Ludwig Köln erworben und in vorliegender Publikation vollständig dokumentiert.
Politische Bilder
Bodo von Dewitz
ISBN: 978-3-86521-932-9
Steidl
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen WEber (2012-01-29)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.