Ein großformatiges Foto zeigt einen kahlköpfigen Magier in Frack, vor ihm eine im Nichts schwebende Prinzessin und auf den Stufen vor beiden viele kleine rote Kobolde, Teufelchen, die vor „Kellar“ niederknien und ihm huldigen. Um die Szene herum eine ägyptische Kulisse, die dem Ganzen genau den Hauch Exotik verleiht, den der unaufgeklärte Europäer des 19. Jahrhunderts wohl als fremdartig magisch empfand. Während des 19. Jahrhunderts gab es noch viele Varietés, die in den USA unter dem Namen Vaudeville firmierten und bis zur Großen Depression in den Zwanzigern die Menschen aufgemuntert hatte. Diese Theater waren der Ort des kleinen Mannes, wo ungestraft geschaut und gestaunt werden durfte. Die Stars dieser Zeit waren Zauberer, schöne Frauen und rosa Kaninchen. Der bereits angesprochene Harry Kellar stammte aus Pennsylvania und trat vorrangig in Theatern auf, während sein größter Konkurrent, Alexander Herrmann, ein zugewanderter Magier aus Paris, sich selbst zu Stegreifauftritten in Geschäften oder auf der Straße hinreißen ließ und eher eine komödiantische Auffassung seines Berufes pflegte.
Kobolde, Enthauptete und Zersägte
Aber der Herrmann-Clan war es dann gewesen, der den klassischen Look des Magier (Schnurrbart, Kinnbart, Schwalbenschwanz) geprägt hatte, denn die Herrmanns waren quasi eine Zauberer-Dynastie und hatten zuvor schon Auftritte in Opernhäusern und anderen Etablissements der feineren Gesellschaft absolviert. Im Programm Alexanders stand etwa die Enthauptung eines Mannes, dessen Kopf sich weiter mit ihm unterhielt oder eine Feuersbrunst, die seine Frau Adelaide auf offener Bühne verschlang und als „Einäscherungsillusion“ in die Geschichte der Zauberei einging. Zudem hatte Alexander Herrmann einen eigenen Eisenbahnwaggon in dem er die Staaten bereiste, was sicherlich zur Legendbildung einer vermeintlichen Allianz mit dem Übersinnlichen beitrug, denn damals war die Eisenbahn fast noch ebenso exotisch wie heute UFOs.
Illusionen, Zaubereien und Wunder
Die beiden Kontrahenten lieferten sich quasi offene Duelle, indem sie absichtlich in denselben Städten auftraten und getrieben von einer konstruktiven Rivalität mit immer neuen Herausforderungen und Überraschungen für das zahlende Publikum aufwarteten. Bis eines Tages Herrmann in seinem Eisenbahnwaggon verstarb und die Bahn frei wurde für Harry Kellar. Der Zauberer in L. Frank Baums Klassiker „The Wizard of Oz“ (1900) soll mit Zügen dieses Kellars versehen worden sein, der eher an einen Großonkel, denn an einen Magier erinnerte, wie die Herausgeberin schreibt. „Die schwebende Prinzessin Karnac“, „Der goldene Schmetterling“ oder „Will, die Hexe und der verzauberte Affe“ gehörten u.a. zu seinen bekanntesten Nummern, doch sein Nachfolger, Thurston „King of Cards“, sollte ihn noch in allem bisher Dagewesenen übertreffen, denn er war der Schöpfer der bisher modernsten Zaubershow, die auch die „zersägte Jungfrau“ oder den „Indischen Seiltrick“ im Repertoire hatte.
Das Träumen wiedererlernen
Anhand von mehr als 1.000 seltenen Plakaten, Fotografien, Werbezetteln, Stichen sowie Gemälden von Hieronymus Bosch, Caravaggio und anderen Künstlern zeichnet die vorliegende Jahrhundertpublikation des Taschen-Verlages im XL-Format und Schuber - „Magic“ - die Geschichte der Zauberkunst von 1400 bis 1950 nach. Spektakuläre Abbildungen und fachkundige Essays beleuchten die Entwicklung des Zauberhandwerks von den Straßenkünstlern des Mittelalters bis hin zu jenen Großmeistern der theatralischen Inszenierung, die dem frühen Film zu seinen ersten Spezialeffekten verhalfen, vom goldenen Zeitalter der Zauberkunst im 19. Jahrhundert bis zu den Vaudeville-Künstlern des 20. Jahrhunderts. Natürlich wird auch auf Draufgänger vom Schlage eines Houdini nicht verzichtet und es bleibt nicht bei dem „ein rosa Kaninchen aus dem Hut ziehen“, denn eine wahre Zauberwelt wird hier ausgebreitet und man kann das Träumen von und in einer vergangenen Epoche geradezu wiedererlernen. Die TASCHEN-Herausgeberin Noel Daniel betreute auch schon die Publikationen von „The Circus 1870–1950 (2008)“ und „Die Märchen der Brüder Grimm (2011)“.
Noel Daniel (Hg.)
mit Mike Caveney, Jim Steinmeyer, Ricky Jay
Magic.
1400s–1950s
Mehrsprachige Ausgabe: Deutsch, Englisch, Französisch
Hardcover im Schuber,
25,2 x 38,2 cm,
544 Seiten,
€ 49,99
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2013-06-30)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.