"Ich weiss nicht Jürgen, das ist doch Irrsinn!" Volker hat ein riesiges Transparent für das Kanzlerfest in Bonn vorbereitet. Bei Gala und Soiree soll das "Transpi", wie es in der Sympathisantensprache heißt, mit der Aufschrift "Freiheit für die Gefangenen der RAF" entrollt werden. Zur gleichen Zeit, im Sommer 1977, ereignet sich auf einer Landstraße kurz hinter Bonn ein Autounfall.
Die Schuld der Väter
Bei diesem Autounfall mit Fahrerflucht stirbt die junge RAF-Sympathisantin Miriam Becker. Sie wäre der Fluchtweg für die Transparent-Attentäter des Kanzlerfestes gewesen. Vom Unfallverursacher fehlt jede Spur. Herr Martin, ein kleiner Angestellter der Rechtsmedizin schaut sich diesen Fall genauer an. Er hat persönliche Gründe dafür. Aber die kennen nur die Leser:innen. Sein Sohn macht gerade den Führerschein und ist im rebellischen Alter. Er hält seinem Vater vor, dass sie seit '45 nichts dazu gelernt hätten. Der Generationenkonflikt zwischen der Täter- und der Nachkommengeneration ist in den Siebziger Jahren in vollem Gange. Ganze Familien wurden davon betroffen und zerstört. Erbarmungslos wütete dieser ideologische Kampf zwischen den Generationen und ließ kein Auge trocken. Meist litten die Mütter am meisten darunter, wenn sich die Kinder mit ihrem Vater rauften. "Ich habe mein Leben lang getan, was man von mir erwartet hat", eröffnet Herr Martin schließlich seinem Sohn, "Am Ende müssen wir uns auch für die Entscheidungen verantworten, die andere für uns getroffen haben." Aber damit Herr Martin zu dieser Einsicht gelangt, muss er erst durch einige Schreckensmomente durchgehen. Schön, dass wenigstens er geläutert daraus hervorgeht. Denn Miriam Becker und ihr Sohn sind tot.
Hitlers Kinder
"Ein Flachmann voller Korn. Ein Koffer voller Beweise. Ein Mann voller Zweifel." Das eigene schlechte Gewissen kann oft zu Höchstleistungen anspornen. Und so wird auch Herr Martin zum Ermittler wider Willen, der eine Vertuschung nachweisen kann, die bis ganz nach oben reicht. Die Versöhnung mit seinem Sohn ist symbolisch für den ideologischen Grabenkampf der Siebziger, dessen Höhepunkt der Deutsche Herbst 1977 wurde. Vielleicht wäre dieser durch ein bißchen mehr Reue und Einsicht der Elterngeneration, so wie bei Herrn Martin, ja doch zu verhindern gewesen. Oder war diese Nachkriegsgeneration doch, wie der Spiegel einst titelte "Hitlers Kinder"? Grafisch bunt und aufmunternd ist der Zeichenstil von Newcomerin Jennifer Daniel, die Illustratorin aus Bonn, die in Düsseldorf lebt und arbeitet. Schon seit 2013 fährt sie beachtliche Erfolge und gute Kritiken ein, wie andere Heu in der Scheune. Ihre bunten oft knalligen Illustrationen sind einprägsam und expressionistisch und werden auch schon mal in Zeitschriften wie GQ, Yeaz, WirtschaftsWoche und Ada veröffentlicht.
Das Gutachten
von Jennifer Daniel
2022, Hardcover, 208 Seiten, Format: 198 mm x 265 mm, ab 16 Jahren
ISBN: 978-3-551-78170-3
Carlsen Verlag
25,00 €
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2022-04-13)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.