Waren auch die Deutschen einmal Flüchtlinge? Wohl nicht nur einmal in ihrer Geschichte wurden sie vertrieben oder flüchteten aufgrund wirtschaftlicher Not aus ihrem Heimatlang. Eine dieser Geschichten ist auch die Ansiedelung der Deutschen in Russland unter der Zarin Katharina II., der „Alleinherrscherin der Reußen, die durch wirtschaftliche Anreize und mancherlei Vergünstigungen die Deutschen in ihr Russisches Reich gelockt hatte. Ihr Hintergedanke dabei war wohl, dass die Neuankömmlinge auf diese Weise die enormen Weiten und Ressourcen ihres Landes erschließen würden und so auch zu wirtschaftlichem Wohlstand beitragen würden.
Die Gründung deutscher Kolonien wurde besondere in der Gegend an der Unteren Wolga erlaubt. 1897 lebten bereits rund 1,7 Millionen Deutsche im Russischen Reich und es gabe sogar fast 20 Jahre lang eine „Autonome Sozialistische Sowjetrepublik der Wolgadeutschen“. György Dalos erzählt die Geschichte der Russlanddeutschen im Zeitrahmen vom 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart und legt einen seiner Schwerpunkte darauf wie die Wolgadeutschen den Ersten Weltkrieg, die Oktoberrevolution, die Stalinistische Diktatur und im Anschluss daran Kollektivierung, Deportationen und Zwangsarbeit überlebten. Erst nach der Perestroika gab es so etwas wie eine Rehabilitierung und wieder die Möglichkeit zur Rückkehr nach Deutschland.
Ein witziger Einstieg gelingt Dalos schon mit Zitaten aus Briefwechseln des Aufklärers Voltaire mit der Zarin. Die Korrespondenz zeige zwei souveräne, liberale Geister, die sich über alles unbefangen austauschen konnten, so Dalos. Die „ausländischen Capitalisten“ (damals im Sinne von Kapitalanlegern zu verstehen), sollten von Militärdienst ausgenommen sein und durften für ihre Fabriken und Manufacturen leibeigene Leute und Bauern zukaufen, so die kaiserliche Empfehlung. Sogar eine eigene Verfassung und Jurisdiktion wurde ihnen zugestanden. Natürlich bedurfte es für dieses Projekt auch der „Werbung“ und so inserierte der Petersburger Hof nicht nur in deutschen Zeitungen, sondern sorgte auch mit Kopfgeldern für die Umsiedelung. „Den zu Hause Gebliebenen wurde ein Land Kanaan versprochen, in dem Milch und Honig flossen“, so Dalos.
György Dalos, der als ungarischer Jude selbst von Exil und Vertreibung geprägt wurde, nimmt sich der (fast) vergessenen Geschichte der Russlanddeutschen an und zitiert Dokumente, Briefe, Akten, um die Geschichte dieser Minderheit zu erzählen. Besonders die jüngere Geschichte wird von Dalos bearbeitet, was aufgrund der Quellenlange natürlich auch nachvollziehbar ist.
Dalos, György
Geschichte der Russlanddeutschen
Von Katharina der Großen bis zur Gegenwart
Deutsche Bearbeitung von Elsbeth Zylla
2014. 330 S.: mit 25 Abbildungen. In Leinen
ISBN 978-3-406-67017-6
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2015-10-20)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.