Vor rund 800 Jahren, irgendwann zwischen 1200 und 1210, verfasste Wolfram von Eschenbach mit dem Parzival ein Hauptwerk der höfischen Literatur, dessen Wirkungsgeschichte bis in die Gegenwart hineinreicht. Die Forschungsarbeiten über das 24.810 Verse umfassende Epos füllen mittlerweile eine ganze Bibliothek. Wer Germanistik studiert oder sich für die Literatur des Mittelalters interessiert, kommt um eine zumindest kursorische Lektüre nicht herum. Vor allem an diesen Adressatenkreis richtet sich das profunde und übersichtlich strukturierte Kompendium, das Michael Dallapiazza, zur Zeit Professor an der Universität von Urbino, zusammengestellt hat.
Dallapiazza beginnt mit einer ganz kurzen Darstellung des historischen Hintergrunds und einigen grundsätzlichen Anmerkungen über den höfischen Roman in Deutschland und Frankreich. Es folgen zusammenfassende Erörterungen der Autorproblematik, der Überlieferungsgeschichte, der Auftraggeberfrage und der Werkstruktur, bevor er sich ausführlich der Inhaltsdarstellung widmet. Der Parzival ist ein hochkomplexes Werk, dessen Erzählfluss alles andere als geradlinig verläuft. Wolfram selber bemerkt dazu im Prolog, dass wohl nicht alle seiner Geschichte folgen können, weil sie zuweilen Haken schlage wie ein aufgeschreckter Hase. Wem es zu mühsam ist, dem Hasen querfeldein auf allen seinen Wegen zu folgen, kann sich im ersten Teil von Dallapiazzas Lehrbuch einen Überblick über den Inhalt des Parzival verschaffen. In der Untergliederung des Inhalts folgt Michael Dallapiazza dem Klassiker Wolfram von Eschenbach (2004 in achter Auflage erschienen) von Joachim Bumke, der für den Parzival eine siebengliedrige Bauform konstatiert. Doch Dallapiazza erzählt nicht nur den Inhalt nach. Wo immer es in Betracht kommt, stellt er weitergehende Bezüge zum Perceval des Chrétien des Troyes her, der wichtigsten Quelle Wolframs. Dabei wird deutlich, wie souverän Wolfram mit seiner Vorlage umgeht, wie er einen Vorspann und eine Fortsetzung dazudichtet, Passagen verändert, auserzählt oder ganz weglässt und weitere Quellen hinzuzieht, ja diese möglicherweise sogar erfindet, so dass letztlich ein absolut eigenständiges und einzigartige Werk entsteht.
In der zweiten Hälfte seines Buches stellt Dallapiazza die Grundzüge der Forschung in sechs Themenkomplexen dar: Die Schuldfrage; Artuswelt und Gralswelt; Parzival und Gawan; Verhaltensmuster und Mentalitäten; Poetologie und narratives Konzept; Die moderne Rezeption. Leider vermisst man in diesem Spektrum Anmerkungen zu Wolframs Sprache und ihren signifikanten Unterschieden zur Sprache seiner zeitgenössischen Kollegen. Die einzelnen, noch einmal in Unterthemen aufgeteilten Kapitel geben Entwicklung und Stand der Forschung bis 2007 in sehr komprimierter Form wieder, wobei auch abweichende Positionen erwähnt werden. Wichtige Begriffe sind – wie übrigens auch im ersten Teil – durch Fettdruck hervorgehoben, und am Ende jedes Kapitels folgen Kurzhinweise auf weiterführende Literatur, deren komplette biografische Daten man im umfangreichen Literaturverzeichnis nachschlagen kann. Dallapiazzas konzentrierte Darstellung ermöglicht einen raschen Einblick in den Themenkomplex, nach der Lektüre des Buches ist man mit den wesentlichen Fragestellungen und Forschungslinien vertraut. Zuweilen strafft Dallapiazza den Stoff jedoch so stark, dass die Aussagen im Text beinahe wie eine Aneinanderreihung von Stichworten wirkt.
Das Buch ist in einer gut lesbaren, im besten Sinne gefälligen Sprache verfasst, der man von wenigen Ausnahmen abgesehen leicht folgen kann. Ein gründlicheres Lektorat hätte dem Text dennoch gut getan. Zeitweilig nämlich fragt man sich, ob der Verlag auf ein abschließendes Lektorat komplett verzichtet hat: Man stolpert über orthografische und syntaktische Fehler, Unsicherheiten in der Zeichensetzung, uneinheitliche Bildung von Komposita sowie häufige Wortwiederholungen und Füllwörter. Die weiterführenden Literaturhinweise an den Kapitelenden sind meist alphabetisch geordnet, gelegentlich purzeln sie aber auch munter durcheinander. Das ist nicht dramatisch, zeugt aber von geringer Sorgfalt im Lektorat, die gleichfalls für das Literaturverzeichnis mit seinen unterschiedlich gestalteten und nicht in jedem Fall vollständigen bibliografischen Angaben festzustellen ist.
Insgesamt bietet das Buch eine gute Grundlage zur Prüfungsvorbereitung oder für einen allgemeinen Einstieg ins Thema. Gegenüber Joachim Bumkes bereits erwähntem Standardwerk hat es einen kleinen Vorsprung in der Aktualität. Wer sich vertiefend mit dem „Parzival“ und Wolfram beschäftigen möchte, wer mehr sucht als eine Hilfe zur Prüfungsvorbereitung, wird aber wohl weiterhin Bumkes Darstellung bevorzugen.
[*] Diese Rezension schrieb: Dorothée Leidig (2010-09-15)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.