„Die Verwandlung“ gehört wohl zu den bekanntesten Texten Kafkas und wahrscheinlich wurde schon mehr darüber geschrieben, als die Erzählung selbst Buchstaben hat. Keine andere Geschichte wurde wohl so vielfältig interpretiert und weiterentwickelt wie diese und dass sie nun endlich auch als Graphic Novel von erschienen ist, dürfte niemanden mehr überraschen. Karlheinz Fingerhut schreibt in Reclams „Interpretationen zu Franz Kafka“, dass schon der erste Satz eine klare Ansage für eine richtige Interpretation enthält, denn Gregor Samsa „findet sich“ verwandelt, das heißt nicht unbedingt, dass er sich wirklich verwandelt hat (!). Es könnte auch sein, dass er es eben nur so empfindet, dass der Text Kafkas von einer „Verwandlung“ erzähle, die möglicherweise gar nicht exakt unter diesen Begriff falle, schreibt Fingerhut.
„Ein Zeichen, das nicht Abbildung ist, muss Metapher sein“, und die Metapher bestehe darin, dass sich Gregor Samsas Verhältnis zu seiner Familie „verwandelt“ habe und nicht er selbst. Der Protagonist stellt also seine soziale Rolle in Frage, weil er entdeckt hat, dass sein Vater gar nicht verschuldet sei und es also folglich gar nicht notwendig gewesen wäre, sich so für die Familie abzuschuften, wie Gregor Samsa, der Sohn, es getan hatte. „Nachdem klar geworden ist, dass er sich umsonst für das Wohlergehen der Familie geschunden hat, dass es vielmehr der kleinbürgerliche Pessimismus der Familie gewesen war, der ihm Bedürftigkeit und Abhängigkeit vorspielte, befreit er sich von der Vorstellung, das Wohl der Familie hänge allein von ihm ab.“ Und das ist die ganze Verwandlung!
Wie in vielen anderen Erzählungen Kafkas auch, so werde auch in der „Verwandlung“ Kafkas eine „Aussteigerphantasie“ entfaltet, ein „Als-ob“-Spiel, wie Fingerhut schreibt. Dass er am Schluss der Erzählung sterben müsse (im Comic krepiert der Käfer im Haus seiner Eltern), könne als gerechte Strafe dafür verstanden werden, dass er sich vor der Verantwortung für die Familie drücken wollte. Mit dem Tod ist seine (die Gregor Samsas) Schuld und die Kafkas abgetragen und das vermeintliche Verbrechen des „Ausstiegs“ ist damit gesühnt. Seine „Seekrankheit auf festem Lande“ ermöglich ihm dabei eine „Ahnung des Glücks“: das Schreiben. Und gerade die Möglichkeit in seinem Gefängnis ungestört schreiben zu können und damit in die Verheißung des Glücks zu kommen, mag Kafka davon abgehalten haben, einen riskanten Ausbruchsversuch zu bewerkstelligen. Insofern mag er sich vielleicht sogar wirklich verwandelt haben, aber mitnichten in ein Insekt.
Gregor Samsa hingegen hat die Entwicklung seiner Familie behindert. So sieht es im Comic zumindest aus. Als der Käfer endlich stirbt, beginnt die Familie wieder richtig zu leben. Sie werfen ihre lästigen Untermieter hinaus, machen einen Ausflug und denken daran ihre schöne Tochter endlich zu verheiraten. Samsas Schwester kann endlich zu einem ruhigen, selbständigen Wesen heranreifen und muss sich nicht mehr um ihren Bruder kümmern. Interessant ist gerade diese Interpretation, da doch sie es war, die den armen Käfer vor allen anderen beschützte, ihm das Essen brachte und ihn pflegte. Den feindseligsten Mitbewohner findet Samsa in seinem Vater, der ihn sogar mit Äpfeln bewirft, weil er die Scherereien mit seinem Sohn leid ist. Man könnte die „Parabel“ also auch so lesen, dass der Sohn eigentlich längst aus dem Hause ausziehen hätte sollen, eine eigene Familie gründen und die Eltern und seine Schwester ihrem Schicksal überlassen hätte sollen. Denn nur so wären sie fähig gewesen, ihr Leben endlich in Selbständigkeit zu leben. Als Samsa, der Käfersohn, endlich stirbt, kann die Familie sich endlich frei entfalten. Die Metapher liegt also im Detail, denn natürlich ist der Tod nicht wörtlich gemeint, sondern bezieht sich vielmehr auf „Weggehen“. Eine Message also vor allem an jene Junggesellen, die immer noch zu Hause wohnen und sich von ihren Müttern verköstigen lassen: „Werdet`s endlich selbstständig!“
Franz Kafka,
Eric Corbeyran
Die Verwandlung von Franz Kafka. Graphic Novel
29,0 x 22,0 cm, Gebunden, 48 Seiten, mit 100 Illustrationen
08 2010
ISBN 978-3-86873-266-5
Preis: 19,95 € (D)
30,50 sFr ⁄20,60 € (A)
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2011-07-23)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.