„Ihr glaubt, das alles wären bloß Legenden, Kindermärchen. Aber es ist meine Geschichte! Sie ist nicht lustig. Sie ist wahr wie das Leben. Und voll Kummer und Leid.“ Antonio „Ninella“ Angelicola wurde als junger Mann auf einer Insel im Süden Italiens interniert. Sein „Vergehen“: Er war homosexuell. Obwohl es nicht einmal im Faschismus ein Gesetz dagegen gab, wurden zwischen 1938 und 1943 mehr als 300 Personen ungerechtfertigterweise und ohne einen wirklichen Gesetzesübertritt begangen zu haben in einem Gefängnis festgehalten. Ninella soll als einer der letzten Überlebenden der Internierten seine Geschichte zwei jungen Filmern, Nico und Ricco, erzählen, aber die Reise an den Schauplatz wird zu einer Reise unangenehmer, verdrängter Erinnerungen und trauriger Bilder.
Reise in die dunkle Vergangenheit
San Domino Tremiti, die „Insel der Männer“, wird von Szenarist Luca de Santis und Zeichnerin Sara Colaone beinahe als Roadmovie in Szene gesetzt, das zwei verschiedene Zeitebenen ineinander verschachtelt. Dabei werden die jeweiligen Schwenks mit dem Flug eines Vogels angekündigt, aber auch durch das Gesicht Ninellas im Abspielmodus, also mit „Play“-Pfeil. Spielt das Roadmovie - also die Geschichte in der Jetztzeit, die ein Interview mit Ninella am Originalschauplatz zum Ziel hat - sich durchaus in bewegten Bildern ab – etwa wenn Ninella auf einer Tankstelle verschwindet und versucht per Autostopp wieder zurück nach Hause zu kommen, während die beiden Filmleute vergebens auf ihn warten – so ist die Geschichte der Vergangenheit, der unfreiwillige Aufenthalt auf der Insel, in durchaus ruhigen, beinahe starren Bildern festgehalten, denn in dieser Periode des Narrativs stand ja auch die Zeit quasi still und niemand konnte sich rühren, oder reisen, oder sich per Autostopp fortbewegen. So verknüpfen die beiden Kreativen, Colaone und de Santis, meisterlich Form und Inhalt zu einer wunderbaren Synthese.
Die Dramaturgie der Bösartigkeit
Die 300 Gefangenen wurden auf der Insel festgehalten und dieser Freiheitsentzug wird bildlich sehr gut vermittelt, da er dann ja auch zu den bekannten tragischen Folgen jeder physischen Festsetzung führt: Lagerkoller. Bald erschlagen sich nämlich die Insassen gegenseitig, weil sie aufgrund der Politik der Lagerleitung und der Aufseher gegeneinander ausgespielt werden, um ihnen so das Leben noch ein bisschen mehr zur Hölle zu machen, als es auf der Insel ohnehin schon ist. Natürlich spielt auch die Sexualität eine große Rolle, denn es sind nicht alle homosexuell die deswegen auf die Insel verurteilt wurden. Aber dennoch haben auch diese Menschen – Männer - sexuelle Bedürfnisse und wollen sie dann mit Gewalt ausleben. Für Ninella ist es besonders schwierig, sich korrekt zu verhalten, weil einer der Aufseher sich in ihn verliebt hat. „Wir sind hier ohne Hoffnung, Brigadiere. Und wenn man verzweifelt ist, kann man sich den Luxus erlauben sich zu geben, wie man will. Auch bösartig sein“, sagt Ninella, der als Schneider für die Aufseher arbeitet an einer wichtigen Stelle und genau an der Stelle schnappt der Adler die Eidechse und läutet damit wieder einen Zeitenwechsel ein. Das wirkt sich auf die Dramaturgie natürlich sehr spannend aus.
Roadmovie in zartem Ocker
Rocco der Regisseur der zu drehenden Dokumentation über die Internierung der Homosexuellen auf der Insel San Domino Tremiti trägt aber auch ein eigenes Geheimnis in sich, denn einer seiner Lehrer an der Schule war auch homosexuell. Auch Rocco reagiert eher ungehalten, wenn er von der Vergangenheit erzählen soll, aber wie soll es da erst Ninella ergehen? Eine einfühlsame Geschichte in zartes und manchmal kräftigeres Ocker getaucht, dass ein wichtiges leider vernachlässigtes Thema des italienischen Faschismus aufarbeitet wird hier dem Leser geboten. Aber abgesehen von dem durchaus spannenden Stoff glänzt „Insel der Männer“ vor allem durch seine grandiose graphische Umsetzung
Sara Colaone/Luca de Santis
Insel der Männer
176 Seiten | gebunden | S/W mit Schmuckfarbe | €18,80.-
ISBN: 978-3-941239-47-0
[*] Diese Rezension schrieb: Jürgen Weber (2012-11-17)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.