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Marvin Chlada - Der Wille zur Utopie
Buchinformation

DAS ANDERE WOLLEN
Marvin Chlada, Der Wille zur Utopie
(Alibri Verlag, Aschaffenburg 2004) 253 S., € 16.-

Alles was utopisch war & ist in Phantasie & Realität bzw. in quasi-spielerischer & quasi-seriöser Denk-/Wunsch-/Machart, wird in diesem Buch vorgestellt. Der Autor (Jg. 1970) ist Exper-te in Pop & Postmoderne - er beschäftigt sich offensichtlich gerne mit politischen, gesellschaftlichen & kulturellen Alternati-ven. Utopien sind Wachträume, die in Fiktion oder Philosophie gekleidet einen opti- oder pessimistischen Gegenentwurf zur jeweils real existierenden Welt manifestieren. Utopien sind Trost oder Flucht, Genuß oder Verantwortung - die einfachere oder die kompliziertere Variante der Realität. Utopie ist Her-ausforderung, Gefahr oder Idylle - primitiv oder höherentwik-kelt, für einzelne oder ganze Gesellschaften, in zeitlichen oder räumlichen Parallelenklaven. Utopie ist eine Metapher für ein Anderssein: Atlantis - Brave New World - Planet der Affen. Da-bei wird die Dystopie zum Menetekel - während der Entwurf von Gegengesellschaften politisch interessant sein sollte. Defi-niert sich Utopie durch Moralität oder durch Machbarkeit - ist ein Leben wie Tarzan oder ist die massenhafte Mondlandung die legitimere Utopie?!
Womöglich wäre die oberste Kategorie einer Utopie das Glück - der Mensch möchte den Faust'schen Wunsch des "Verweile-doch-du-bist-so-schön" für sich (& alle?) verwirkli-chen. Chlada entdeckt als das Wesen der Utopie die Grenz-überschreitung - der Wert einer Utopie bemißt sich auch nach den Kriterien Hoffnung, Gerechtigkeit & Kritikfähigkeit. Zu fra-gen wäre also auch grundsätzlich, ob Utopien palliative Effekte für den Einzelnen oder einen emanzipatorischen Charakter für das Gesellschaftsganze haben. Utopisches Denken & Wün-schen erweitert stets die Existenzaggregationen Zeit & Raum - & immer wieder geht es um die Frage, wie sich eine Neue Welt nach innen strukturieren & nach außen stabilisieren ließe. Die grundsätzlichste Definition für Utopie entdeckt Chlada bei Karl Mannheim: "Utopisch ist ein Bewußtsein, das sich mit dem es umgebenden 'Sein' nicht in Deckung befindet" - im Gegensatz dazu rechtfertigt eben eine Ideologie das jeweils Bestehende.
Chlada erörtert zahlreiche utopische Werke der Literatur- & Philosophiegeschichte & scheut auch nicht vor der Problema-tik, daß ein christlich geprägtes Denken im Sinne von Gottfried Wilhelm Leibniz die bestehende als "die beste aller möglichen Welten" postulieren möchte. Utopisches Denken ist eo ipso transzendierendes Denken - müßte es also nicht automatisch die Frage nach Gott völlig neu stellen?! Moderne Utopie-Kritiker beschäftigen sich eher mit den innerweltlichen Proble-men Macht, Arbeit, Genuß, Freizügigkeit. Und dann noch die Befürchtung: wäre eine schöne, vollkommene Welt nicht lang-weilig & einschläfernd?! Oder wieder anders gewendet: sind utopische Sehnsüchte womöglich ver-rückt - eine Gefährdung des Normalen, Vernünftigen?! Und welche Rolle spielen Se-xualität & Berauschung - lebt es sich angenehmer abstinent oder dionysisch?!
Während Chlada in seinem ersten Kapitel die unterschiedli-chen Ansätze utopischen Denkens & Phantasierens analysiert, stellt er in seinem zweiten Kapitel die interessantesten Utopie-Werke vor: Atlantis, Sonnenstadt, Insel Felsenburg, Abderiten, Metropolis usw. Irgendwie läuft die utopische Wunschpraxis auf eine Vermengung 'altes Griechenland + technischer Fort-schritt' hinaus. Jedenfalls erläutert Chlada im dritten Kapitel 'Das utopische Denken in der Postmoderne'. Viele alternative Lebensmodelle sind inzwischen in der Praxis erprobt worden, der Blick in den Weltraum weitet sich, das Phänomen Cyberspace ist fast schon plausibel geworden. Chlada stellt moderne Werke (Romane, Aufsätze, Comics) vor, in denen z.T. Extreme (auch sadomasochistischer Art) ausgelebt werden, wo sich Cyberpunk, Fantasy oder Rollenspiel exzessiv austoben. Der scheinbare Vorteil besteht heutzutage darin, Utopien durch Computersimulationen zum Leben erwecken zu können. Allerdings wird in diesen virtuellen Welten meistens gekämpft. Mad Max läßt grüßen. Alles wird austauschbar, auch der Mensch, wir leben ohnehin immer mehr in Simulatio-nen.
Als große Ausnahme sieht Chlada die sogenannte 'Inter-nationale der Hoffnung' der Zapatistas, die gegen den globalen Kapitalismus rebellieren. Der "Medienguerillero" Marcos verbreitet seine Botschaften via Internet: ihm geht es um die Utopie der Herrschaftslosigkeit & Selbstbestimmung: "Die Welt, die wir wollen, ist eine Welt, in der viele Welten Platz haben." Damit wäre das utopische Denken eigentlich & endlich in der politischen Realität angekommen - dieses Engagement müßte weiterverfolgt werden. Abgesehen von dem letzten überflüssigen Kapitel (mit Gesprächen über Perry Rhodan, Star Trek oder schwule SF) ist Chlada hier ein sehr gehaltvolles Buch gelungen, welches den praktischen Nähr-wert haben sollte, unser utopisches Wollen in die Realität hineinwirken zu lassen & gemeinsam zu entwickeln. KS

[*] Diese Rezension schrieb: Karl-Heinz Schreiber (2005-03-25)

Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.


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