Zitat:
Man ist auf der Hut vor Vagabunden, Bettlern, umherziehenden Predigern, die klauen wie Zigeuner. Man verjagt fahrendes Volk, Landstreicher, Zirkusleute, vertreibt Hausierer mit der Mistgabel. Aber dann kommt der 20. Februar, die Herrschaft des Vampirs, die alle Angst, alle Gewalt, den unterdrückten Wahn in sich trägt und das furchtbare Geheimnis der bösen Welt auf das Unfassbare verdichtet.
Man ist auf der Hut vor Vagabunden, Bettlern, umherziehenden Predigern, die klauen wie Zigeuner. Man verjagt fahrendes Volk, Landstreicher, Zirkusleute, vertreibt Hausierer mit der Mistgabel. Aber dann kommt der 20. Februar, die Herrschaft des Vampirs, die alle Angst, alle Gewalt, den unterdrückten Wahn in sich trägt und das furchtbare Geheimnis der bösen Welt auf das Unfassbare verdichtet.
Der Nestor der westschweizer Literatur, von dessen über 80 Werken man in Deutschland stets nur wenig Notiz genommen hat, war schon in seinen Siebzigern, als er dieses Protokoll eines Kriminalfalles aus dem Jahr 1903 notierte.
Ein seelisch tief Gestörter gräbt auf den Friedhöfen der abgelegenen winterlichen Provinz im Kanton Waadt, nördlich von Lausanne, Mädchenleichen aus, zerstückelt die Toten, zerkaut ihr Fleisch und scheint dabei zum sexuellen Höhepunkt zu gelangen.
Jacques Chessex, inzwischen verstorben, ist in der französischen Schweiz eine Instanz gewesen. Er hat sich in die unterschiedlichsten Gattungen eingeschrieben. Immer wieder ging es dabei um eine, oberflächlich betrachtet, säuberlichst geordnete Heimat, in die das Unkontrollierbare, das Dämonische einbricht. Man könnte spekulieren, dies sei das Generalthema allen Schweizer Schreibens. (Nur mal an das Güllen von „Der Besuch der alten Dame“ oder die tödlichen Verstrickungen des fantasielosen Ingenieurs Faber in „Homo faber“ gedacht.) Für die Westschweizer hatte es der große Charles-Ferdinand Ramuz in der ersten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts vorgemacht, zum Beispiel mit „Derborence“, der ebenfalls auf historische Fakten beruhenden Erzählung von einem großen Bergsturz in den Alpen.
Chessex‘ „Vampir“ ist entgegen dem Versprechen seines Titels kein Horror-, eigentlich auch kein Unterhaltungsbuch, sondern eine ganz knappe, mühelos aufzunehmende Wiedergabe dessen, was der Autor in den Quellen über den alten Fall heute noch finden konnte. Ein True-Crime-Büchlein also. Den Status einer künstlerischen „Parabel“ mag man ihm nicht zubilligen, dafür ist es dann doch zu eindimensional, von der Art einer Pitaval-Geschichte.
Solche Bücher werden im modernen deutschen Medienbetrieb kaum je veröffentlicht. Über Kapitalverbrechensfälle wird allenfalls in groß angelegten, faktengespickten Studien wie Truman Capotes „Kaltblütig“ oder Stefan Austs „Heimatschutz“ berichtet. Dass Chessex‘ knapp-essayistische „Nacherzählung“ nahezu unbeachtet blieb, will daher nicht verwundern.
[*] Diese Rezension schrieb: Klaus Mattes (2014-11-10)
Hinweis: Diese Rezension spiegelt die Meinung ihres Verfassers wider und muss nicht zwingend mit der Meinung von versalia.de übereinstimmen.